Minsk (Stadt)

Minsk (russ./weißruss. [auch: Mensk], litau. hist. Minskas, poln. hist. Mińsk)

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die im Zentrum der Republik Weißrussland gelegene Hauptstadt M. befindet sich im Dreieck der Metropolen Warschau, St. Petersburg und Moskau. Bei der Volkszählung von 1999 wies M. eine Fläche von 266,8 km² und eine Einwohnerzahl von 1.680.507 auf (79,3 % Weißrussen, 15,7 % Russen, 2,4 % Ukrainer, 1,1 % Polen, 0,6 % Juden; Einwohnerzahl 2005: 1.780.700). Der Hauptstadt ist sowohl das M.er Gebiet (Minskaja voblascʹ [russ. oblastʹ]) als auch der M.er Landkreis (Minski raёn/Minskij rajon) administrativ unterstellt.

Die meteorologische Situation in M. ist stark vom kontinentalen Klima geprägt. Die mittlere Temperatur im Januar beträgt –6,5 °C, im Juli 17,6 °C, die jährliche Niederschlagsmenge erreicht im Schnitt 658 mm.

Auf M. konzentrieren sich alle Ressourcen des Landes, nicht nur Behörden und Schlüsselbetriebe, sondern auch Hochschulen und Kultureinrichtungen. Die Stadt verdankt ihre Bedeutung einerseits dem in den 1870er Jahren erfolgten Anschluss an das Eisenbahnnetz zwischen Russland und Polen sowie der Ukraine und dem Baltikum, andererseits der Vernachlässigung der übrigen weißrussischen Regionen im sowjetischen Aufbauprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute stellt M. den zentralen Verkehrsknotenpunkt für Weißrussland sowie die Ost-West-Achse von Westeuropa nach Russland dar. 1933 wurde der erste Flughafen im Stadtgebiet (M.-1) eröffnet. Der internationale Verkehr wird jedoch hauptsächlich über den neueren (seit 1982) Flughafen M.-2 abgewickelt.

Die Industrie wird vom Fahrzeugbau und der Elektrotechnik dominiert. Was der westliche Besucher in M. vorfindet, ist ein „Museum der Sowjetunion“. In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Exklusivität des „sozialistischen Realismus“. Kaum eine andere Stadt dieser Größe weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie M. In bezug auf die Lebensverhältnisse ist allerorten eine Konservierung des von der Mangelgesellschaft und der Kommandowirtschaft geprägten sozialistischen Erbes zu verspüren.

Der in den rechten Dnjepr-Nebenfluss Bjarėzina mündende Fluss Svislač ist für die moderne Schifffahrt ungeeignet, bildet indes eine Grün- und Erholungszone.

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2 Kulturgeschichte

Obgleich M. eine tausendjährige Geschichte hat, handelt es sich in ihrer heutigen Gestalt um eine relativ junge, von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägte Stadt. Die erste Erwähnung von ›Menesk‹ verzeichnet die älteste russische Chronik, die sog. Nestorchronik, unter dem Jahr 1067. Der Name wird einerseits von dem Wort ›menjatʹ‹ abgeleitet, das „tauschen“ bedeutet und auf die Funktion eines Handelsumschlagplatzes hinweist, den die „Burgsiedlung“ (zamčišče/zamčyšča) auf dem langen Weg des Flusssystems zwischen Skandinavien und dem Byzantinischen Reich für die Kiewer Rus eingenommen haben könnte. Andererseits wird die Bezeichnung mit einer archäologisch auf das 10. Jh. datierten Siedlung am Bach Menka in Zusammenhang gebracht, die sich 12 km westlich des 1104 bezeugten Fürstensitzes befand.

Im ersten Viertel des 14. Jh. geriet M. in den Einflussbereich des Großfürstentums Litauen und gehörte seit dessen Vereinigung mit dem Königreich Polen 1386 zum Bestandteil der polnischen-litauischen Union. Im 15. Jh. lebten etwa 3000–4000 Einwohner in der Stadt, Anfang des 16. Jh. ca. 5000. Über die Verleihung des Magdeburger Rechts 1499 und die Ansiedlung katholischer Orden nach dem Abschluss der Brėster Union 1569 sind M. auf die Emanzipation des Bürgertums zielende Traditionen westlicher Geisteskultur und Sozialstruktur zuteil geworden. Im Zuge der Verwaltungsreformen von 1564–66 wurde M. zum Sitz eines Woiwoden, d. h. Statthalters, erhoben und schließlich 1591 mit einem eigenen Wappen versehen.

Ab Ende des 16. Jh. tagte das „Oberste Litauische Tribunal“, das höchste Appellationsgericht, in M. Angesichts der Tatsache, dass im Großfürstentum Litauen eine ostslawische Kanzleisprache verwendet wurde, aus der sich das heutige Weißrussische herleitet, bestehen die Historiker in der Republik Weißrussland auf einer staatlichen Kontinuität. Aus patriotischen Gründen wird dabei für die weißrussische Hauptstadt gern die Bezeichnung ›Mensk‹ herangezogen, die in der Zeit der polnisch-litauischen Union üblich gewesen war und die in den 1920er Jahren wiederaufgegriffen wurde, als der Moskauer Kreml vorübergehend die weißrussische Nationalkultur förderte.

Allerdings stellte M. seit der Eingliederung in das Zarenreich 1793 im ethnischen Sinne keine weißrussische Stadt mehr dar. Nach der Erhebung zur Gouvernementshauptstadt 1796 erfolgte in politischer und kultureller Hinsicht eine Russifizierung. Einerseits wurde die Verwaltung und das Militär in die Hände von Russen gegeben, andererseits wurden alle mit Katholiken und Unierten verbundenen polnischen Symbole aus der Öffentlichkeit verdrängt. Fortan prägte die russisch-orthodoxe Kirche das Stadtbild.

Weil Weißrussland im Zentrum des „Ansiedlungsrayons“ für die Juden des Russischen Reiches lag, begann M. daneben in sozioökonomischer Hinsicht einem jüdischen Schtetl zu gleichen. Während die weißrussischen Bauern traditionell dem Dorfleben verbunden blieben, wurde den Juden der Landbesitz staatlicherseits untersagt. Juden waren gezwungen, sich als Händler und Handwerker in den Städten niederlassen. Auf diese Weise vergrößerte sich die Einwohnerzahl in M. von 6700 im Jahre 1800 auf 30.100 im Jahre 1863 und 91.500 im Jahre 1897. Bei der Volkszählung von 1897 belief sich der jüdische Bevölkerungsanteil in M. auf 51,2 %, der russische auf 25,8 %, der polnische auf 11,4 % und der weißrussische auf 9,0 %. Ungeachtet dessen, dass M. zu Sowjetzeiten als Versammlungsort des 1. Parteitages der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) 1898 den Nimbus einer revolutionären Tradition beanspruchen konnte, blieb die Stadt in bezug auf das wirtschaftliche Potential und auf das kulturelle Ambiente eher provinziell. Gegenüber der Lebensmittelindustrie, der Leder- und Textilindustrie sowie der Holz- und Papierindustrie trat die von Eisenbahnwerkstätten getragene Metallverarbeitung in den Hintergrund. Realiter basierte die gewerbliche Wirtschaft zu einem erheblichen Teil auf Handwerksbetrieben protoindustriellen Zuschnitts, die von einem Meister allein oder mit einem Gesellen unterhalten wurden. Trotzdem erfüllte die Stadt repräsentative Funktionen.

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Im Zentrum gruppierten sich um den „Kathedralenplatz“ (Sobornaja ploščadʹ/Sabornaja plošča), das Haus des Gouverneurs im ehemaligen Jesuitenkollegium, das Kreisgericht im ehemaligen Basilianerkloster, eine Bank und ein Kaufmannsclub im ehemaligen Handelskontor, das Stadtarchiv im ehemaligen Bernhardinerkloster, die „Peter-und-Paul-Kathedrale“ (Petropavlovskij sobor/Petrapaŭlaŭski sabor; 1613), die Kirche des Heiliggeistklosters (Svjatoduchovnyj monastyrʹ/Svjataduchaŭski manastyr, seit 1862; ehemalige Klosterkirche der Bernhardiner, 1633–42) und eine Synagoge. Zur Infrastruktur zählten Wasserleitung (1874), Telefonnetz (1890), Pferde-Straßenbahn (konka; 1892) und elektrische Straßenbeleuchtung (1895). Das städtische Theater öffnete 1890 die Tore, das Hotel „Europa“ 1908.

In der Zwischenkriegszeit schritt M. als Hauptstadt der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) auf dem Weg in die Moderne voran. Die kurzzeitige Förderung der weißrussischen Nationalkultur durch die Bolschewisten schlug sich in der Eröffnung des Nationalmuseums (1919; bis 1923 Gebietsmuseum), der Staatlichen Universität (1921), des „Instituts für weißrussische Kultur“ (Institut belorusskoj kulʹtury/Instytut belaruskaj kulʹtury, 1922; seit 1929 Akademie der Wissenschaften) und der Nationalbibliothek (1922, ab 1932 Leninbibliothek) nieder. Später folgten das Konservatorium (1932) und die Gemäldegalerie (1939).

Die Kehrseite der Medaille war die Schließung von religiösen Gebäuden und die Verfolgung geistlicher Würdenträger. Im Bereich der Infrastruktur zählten Autobus (1924), Straßenbahn (1929) und der Beginn der Kanalisation (1930) zu den Errungenschaften der Sowjetisierung. Allerdings blieb die Koexistenz von Fabrik- und Heimindustrie als Strukturmerkmal der M.er Wirtschaft erhalten.

Neue Impulse gingen erst von den beiden sowjetischen Fünfjahresplänen aus: 1928–33 wurden zwölf neue Betriebe gegründet, 1933–37 folgten weitere 30. Die städtische Statistikverwaltung ermittelte für das Jahr 1940 332 Betriebe mit 24.954 Arbeitern und 124 Produktionsgenossenschaften mit 4050 Arbeitern.

Weiterhin dominierte die Lebensmittelindustrie, dicht gefolgt von der Textilindustrie und der Lederindustrie. Dennoch verwandelte sich M. von einem lokalen Handelszentrum zu einem Wirtschaftsstandort mit überregionaler Bedeutung. Durch die von der Industrialisierung und der Zwangskollektivierung ausgelöste Landflucht der weißrussischen Bauern vergrößerte sich die Einwohnerzahl in M. zwischen den beiden Volkszählungen von 1926 und 1939 von 131.803 auf 237.500; während der Anteil der Weißrussen und Russen von 42,4 % auf 54,8 % sowie von 9,6 % auf 12,0 % stieg, fiel derjenige der Juden von 40,8 % auf 35,8 %. Es wäre aber verfehlt davon auszugehen, dass die quantitativen Verschiebungen zu einer qualitativen Verstärkung des weißrussischen Einflusses in M. geführt hätten. Denn die im Moskauer Kreml zu Beginn der 30er Jahre unternommene Wende zum Sowjetpatriotismus führte in M. zu Repressionen gegen die Intelligenz respektive zu einer Ausschaltung der nationalen Trägerschicht. Letzten Endes vollzog sich in M. die Transformation von einer jüdischen Stadt in eine sowjetische Stadt. Nicht von ungefähr begann bereits in der zweiten Hälfte der 30er Jahre auf der Grundlage des beispielgebenden Moskauer Generalbebauungsplans von 1935 eine Phase der Rekonstruktion. In bewusster Abkehr von der historisch gewachsenen „kapitalistischen Stadt“, deren Urbanität sich auf die Verdichtung von Gebäuden, Straßen und Plätzen gründete, wurde nunmehr als Devise der „sozialistischen Stadt“ die Gewährleistung öffentlicher Hygiene durch Auflockerung der Bebauung propagiert.

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Konsequenterweise wurde die Sanierung des ältesten, traditionell von Juden bewohnten Stadtviertels am Bach Nemiga durch den Abriss ganzer, von Holzhäusern umsäumter Straßenzüge anvisiert. M. sollte seinem Status als Republikshauptstadt entsprechend die Rolle eines Verwaltungs-, Industrie- und Kulturzentrums übernehmen und damit die Funktion eines „sozialistischen Vorpostens“ gegenüber dem kapitalistischen Westen ausüben. Vor diesem Hintergrund wurde das Stadtbild durch eine Reihe von Gebäuden ergänzt, die der sowjetischen Spielart der modernen Architektur, dem Konstruktivismus, verpflichtet waren. Zu nennen sind das Regierungsgebäude (1934), die Leninbibliothek (1932), das Polytechnische Institut (1932), das Theaterhaus für Oper und Ballett (1933–37), das „Haus der Roten Armee“ (nach dem Krieg Offiziershaus, 1939), der Pionierpalast (1936), das Hauptgebäude der Akademie der Wissenschaften (1939), das „Institut für Körperkultur“ (1939) und das Gebäude des Zentralkomitees (ZK) der weißrussischen Bolschewisten (1941).

Aller Ambitionen zum Trotz veranlassten strategische Bedenken das ZK am Vorabend des Zweiten Weltkrieges dazu, die Verlegung der Hauptstadt in den Osten nach Mahilëŭ in Erwägung zu ziehen. Wie unerwartet der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22.6.1941 für die M.er Bevölkerung eintrat, lässt sich indes daran ablesen, dass am gleichen Tag der im Norden des Zentrums gelegene und durch eine künstliche Erweiterung der Ufer des Svislač-Flusses geschaffene „Komsomol-See“ (Komsomolʹskoe ozero/Kamsamolʹskae vozera) der Öffentlichkeit übergeben wurde.

Der Angriff auf M. begann am 23.6. mit Bombardierungen aus der Luft; die Belagerung und Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht dauerte bis zum 28.6. Im Laufe der dreijährigen Besatzungszeit reduzierte sich die Einwohnerzahl auf ca. 100.000. Bei der Befreiung der Stadt am 3.7.1944 betrug sie weniger als 50.000. Insgesamt sollen im Getto von M., im Vernichtungslager Trascjanec und im Kriegsgefangenenlager Masjukoŭščyna während des Zweiten Weltkrieges 327.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Über das konkrete Schicksal der Einheimischen ist jedoch nichts bekannt. Fotos aus der Nachkriegszeit, die die Straßenzüge des Zentrums dokumentieren, zeigen, dass M. nach dem Abzug der Deutschen in Schutt und Asche lag. In der Tat lassen sich über das Ausmaß der Schäden des Zweiten Weltkrieges nur vage Aussagen machen. Vermutlich sind zwei Drittel des städtischen Wohnraumes im Krieg vernichtet worden.

M. stellte eine Tabula rasa dar. Im Anschluss an den Holocaust kam das jüdische Leben durch den Antisemitismus der späten Stalinzeit, der Ende der 40er Jahre zur Schließung der Synagoge und des jüdischen Theaters führte, völlig zum Erliegen. Es folgte ein radikaler Stadtumbau, ein dynamischer Prozess der Industrialisierung und ein tiefgreifender demographischer Wandel.

Die nach der Befreiung der Stadt 1944 aus Moskau und Leningrad angereisten Stadtplanungsexperten sahen in der Zerstörung eine Chance, etwas völlig Neues zu errichten. Von der Bewahrung des historischen Erbes, d. h. von einem Wiederaufbau im eigentlichen Sinne, war nicht die Rede. Vielmehr sollten das Konzept der „sozialistischen Stadt“ und die Konzentration aller zentralen Einrichtungen auf die Hauptstadt zum Tragen kommen. Der Generalbebauungsplan von 1946 sah die Errichtung eines gesellschaftlichen und administrativen Zentrums vor, das sich durch monumentale Gebäude auszuzeichnen habe. Zur Entlastung der Stadt vom Durchgangsverkehr sollte ein System von radial-ringförmigen Hauptstraßen errichtet werden. Als wichtigste Strukturelemente wurden die zur 48 m breiten Magistrale auszubauende „Sowjetische Straße“ (ul. Sovetskaja/Savetskaja) und der mit Uferbefestigungen und Grünanlagen zu versehende Svislač-Fluss erachtet. Die Architektur sollte gemäß der Formel „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ sowohl die Tradition der klassischen Antike als auch die volkstümliche Kunst Weißrusslands widerspiegeln. In der Praxis kam es allerdings zu allerlei Widersprüchen. Während sich die Architekten im Streit darüber aufrieben, ob dem Konstruktivismus der sowjetischen Avantgarde mit seiner Einfachheit der Formen oder dem unter den Zaren gepflegten Neoklassizismus mit seiner dekorativen Pracht eine Vorrangstellung zukommen solle, schälte sich die Wasserversorgung als eigentliches Problem der Stadtplanung heraus. Angesichts der Tatsache, dass die wichtigsten konstruktivistischen Gebäude aus den 30er Jahren renoviert wurden, besticht das Bild der Innenstadt heute durch die Kombination zweier gegensätzlicher Architekturstile. Der Ende der 40er Jahre fertiggestellte erste Bauabschnitt der Magistrale wird eindeutig von neoklassizistischen Wohnpalästen geprägt.

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Symbolträchtig auf der höchsten Stelle der Stadt wurde ein Verwaltungsgebäude (1945–47) errichtet, das bis heute das Hauptquartier des Komitees für Staatssicherheit (KGB) bildet. Es handelt sich um einen Prachtbau, der mit seinem breiten, mit Säulen ausgestattetem Portal und seinem dekorativen Turm an eine Residenz aus der Zarenzeit erinnert. An der 11 km langen, die Stadt von Westen nach Nordosten durchziehenden Magistrale, die 1952 in „Stalinprospekt“ und 1961 in „Leninprospekt“ umbenannt wurde, sind die bedeutendsten Plätze aufgereiht. Die Magistrale beherbergt alle wichtigen Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und Geschäfte. An sowjetischen Feiertagen offenbarte sie ihre offizielle Funktion, als sich Staats- und Parteiführung bei Paraden und Demonstrationen der Bestätigung ihrer Macht durch die Massen versicherten. Auch nach der Auflösung der Sowjetunion dient der zwischenzeitlich dem weißrussischen Buchdrucker des 16. Jh., Francišak Skaryna, gewidmete Prospekt als Flaniermeile; anlässlich der 60. Wiederkehr des Kriegsendes wurde er in „Prospekt der Unabhängigkeit“ (prospekt Nezavisimosti/praspėkt Nezaležnasci) umbenannt. Allerdings vergnügen sich die Menschen lieber an der zu Beginn der 70er Jahre projektierten Nord-Süd-Achse, an dem mit Geschäften und Straßencafes ausgestatteten „Prospekt der Sieger“ (prospekt Pobeditelej/praspėkt Peramožcy), bis 2005 „Mašerovprospekt“).

In der Architektur der Stalinzeit sollte sich der Sieg über den Nationalsozialismus und die Überlegenheit über die „kapitalistische Stadt“ widerspiegeln. Zu einem markanten, die Silhouette der Stadt prägenden Hochhausbau wie in Moskau oder Warschau – sieht man von den beiden als „Tor in die Stadt“ angelegten Wohnhäuser am Bahnhofsplatz ab – kam es in M. allerdings nicht mehr. Zu Beginn der 50er Jahre kündigte sich in der sowjetischen Stadtplanung mit der Parole „Billiger, besser und schneller bauen“ die Kampagne gegen den „dekorativen Überfluss“ und das Konzept der Industrialisierung des Bauens unter Zugrundelegung von Typenprojekten an.

Seit dem Moskauer Baukongress von 1954 stand nicht mehr das architektonische Gesamtensemble im Vordergrund, sondern der vom Funktionalismus getragene Massenwohnungsbau; die Wohnpaläste wichen den Plattenbauten. Folglich symbolisiert kein anderer Ort so sehr das Scheitern der „sozialistischen Stadt“ wie der „Zentrale Platz“ (Centralnaja ploščadʹ/Cėntralʹnaja plošča). Anstelle der Innenstadt Urbanität zu verleihen, präsentierte sich dieser über Jahrzehnte hinweg als öde Freifläche, die lediglich in den Jahren 1952–61 von einem Stalin-Denkmal gekrönt wurde.

Bezüglich seiner baulichen Einfassung ragten der neoklassizistische, mit Säulen und Skulpturen verzierte „Kulturpalast der Gewerkschaften“ (Dvorec kulʹtury profsojuzov/Palac kulʹtury prafsajuzaŭ, 1949–54) und der schmucklose funktionelle Kastenbau des „Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ (Musej istorii Velikoj Otečestvennyj vojny, Muzej historyi Vjalikaj Ajčynnaj vajny, 1966) hervor. Heute wird der Platz, der bei der Eröffnung einer U-Bahn-Station im Jahre 1984 in „Oktoberplatz“ (Oktrjabrskaja ploščadʹ/Kastryčnickaja plošča) umbenannt und damit seiner „zentralen“ Funktion beraubt worden war, zur Gänze von dem „Palast der Republik“ (Dvorec Respubliki/Palac Rėspubliki) ausgefüllt, der Ende 2000 seiner Bestimmung übergeben wurde.

Die Industrialisierung der BSSR nach dem Zweiten Weltkrieg löste einen Verstädterungsprozess aus, der in M. zu einem explosiven Bevölkerungswachstum führte. M.er Betriebe erlangten nicht nur für die gesamte Sowjetunion Bedeutung, sondern spielten auch im Güteraustausch mit den Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) eine wichtige Rolle. 1947 nahmen das Fahrrad- und Motorradwerk sowie das Lastkraftwagenwerk die Produktion auf; 1948 folgte das Traktorenwerk. Ergänzt wurden die großen Industriekonzerne noch durch eine Fabrik für Radio- und Fernsehgeräte (1950), eine Uhrenfabrik (1954) und eine Kühlschrankfabrik (1959).

Obgleich eine weitere Ansiedlung von Industrieanlagen in der Stadt seit 1956 untersagt wurde, stieg die Einwohnerzahl von 287.300 im Jahre 1950 über 573.700 im Jahre 1960 und 915.000 im Jahre 1970 auf 1.643.300 im Jahre 1990. Weil das Gros der Zuwanderer aus Weißrussland stammte, erlebte der Bevölkerungsanteil der Titularnation eine enorme Verstärkung. Er vergrößerte sich von 65,8 % bei der Volkszählung von 1959 auf 71,8 % bei der Volkszählung von 1989. Der Anteil der Russen blieb mit 22,8 % und 20,2 % stabil. Wegen der Ausreisewelle zu Anfang der 70er und am Ende der 80er Jahre verringerte sich dagegen der Anteil der Juden von 7,6 % auf 2,4 %.

Der Grad der Russifizierung der weißrussischen Hauptstadt lässt sich daran ablesen, dass bei der Volkszählung 1989 52,9 % der Bevölkerung das Russische als Muttersprache bezeichnete. Offensichtlich hatte die sowjetische Schul- und Bildungspolitik für eine Preisgabe der Nationalsprache gesorgt. Vor dem Hintergrund der in der Republik Weißrussland betriebenen Politik der Zweisprachigkeit benannten bei der Volkszählung von 1999 zwar 61,9 % der Einwohner von M. das Weißrussische als Muttersprache, doch gestanden 76,9 %, das Russische als Umgangssprache zu gebrauchen. Aufgrund der Tatsache, dass die in den 60er Jahren erzielte jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung von 4,7 % von keiner vergleichbaren sowjetischen Großstadt erreicht wurde, machte in den 70er Jahren das Wort vom „M.er Phänomen“ die Runde. Trotz der Einführung eines rigiden Meldesytems 1953, demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung in der Stadt nur beim Nachweis von unerschwinglichen 9 m² Wohnfläche pro Person erteilt wurde (seit 1968 12 m²), konnte der massenhafte, teils illegale, teils über einen Arbeitgeber oder eine Hochschule legitimierte Zuzug der Landbevölkerung in die Stadt nicht verhindert werden. M. platzte aus den Nähten.

Weder der Wohnungsbau noch die Versorgung mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben kamen den gestiegenen Bedürfnissen nach. Eine „Verbäuerlichung“ der Stadt mit der Errichtung zahlreicher dörflicher Holzhausviertel war die Folge. Realiter entfielen auf jeden Einwohner in den 50er Jahren rd. 5 m² individueller Wohnraum. Drei Viertel aller Wohnungen verfügten weder über Wasserleitung und Zentralheizung, noch über Gasanschluss und sanitäre Einrichtungen. Wurde die Lösung der Wohnungsfrage in den 60er Jahren noch in der Errichtung von im Innenstadtbereich gelegenen Mikrorayons für rd. 15.000 Menschen gesucht, die sich aus fünfstöckigen Mietshäusern und den dazugehörigen Versorgungseinrichtungen zusammensetzten, so galten seit den 70er Jahren die aus monotonen Hochhäusern bestehenden Stadtrandviertel für 100.000 Menschen als letztes Mittel, der Massen Herr zu werden. War bis dato das Leben in einer Gemeinschaftswohnung (kommunalka) oder einem Wohnheim die Norm, ermöglichten die Neubauwohnungen trotz ihrer geringen Größe weiten Teilen der Bevölkerung immerhin erstmals einen Rückzug ins Private. Obgleich die durchschnittliche allgemeine Wohnfläche – die sich von der individuellen durch den Einbezug von Küche, Bad und Flur unterscheidet – pro Person von 8,4 m² im Jahre 1960 über 10,2 m² im Jahre 1970 und 13,2 m² im Jahre 1980 auf 15,1 m² im Jahre 1990 und 18,0 m² im Jahre 1999 anstieg, konnte die Wohnungsfrage bisher nicht gelöst werden. Mehr als 5 % der Einwohner lebten in einem primitiven Holzhaus und weit über 100.000 Familien verfügten über keine eigene Wohnung.

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Als sich abzuzeichnen begann, dass das Konzept der „sozialistischen Stadt“ dem enormen Bevölkerungsdruck nicht standhalten konnte, wurde der Versuch unternommen, einen neuen Mythos zu kreieren. 1974 erhielt M. als zehnte Stadt der Sowjetunion den Ehrentitel einer „Heldenstadt“ verliehen. Ein Konglomerat aus Antifaschismus und Partisanenideologie diente fortan als Beschwörungsformel, um die Arbeiterklasse auf den Kurs der Partei festzulegen. Schließlich äußerte sich im letzten Jahrzehnt des Bestehens der Sowjetunion in der weißrussischen Hauptstadt eine urbane Nostalgie. Durch die Anlage eines „Museumsdorfes“ wurde das geschaffen, was dem modernen M. bisher fehlte: eine Altstadt. Es handelt sich um ein Viertel, das auf einer Imitation der Troickoer Vorstadt (Troickoe predmestʹe/Traeckae pradmesce) des 18. und 19. Jh. beruhte und mit Läden und Cafes ausgestattet wurde. Allerdings werden diese Einrichtungen von der Masse der am Rande des Existenzminimums lebenden Einwohner genauso wenig angenommen wie die noblen Restaurants, die die Neureichen und die ausländischen Touristen bewirten. Letztendlich ist M. auch als Millionenstadt Provinz geblieben.

Zu einem Bildersturz ist es nach dem Untergang der Sowjetunion nur in sehr begrenztem Maße gekommen. So wurden zwar die Büsten von Marx und Lenin von dem zum Präsidentenhaus umfunktionierten ehemaligen ZK-Gebäude entfernt, doch blieben die Denkmäler von Lenin und dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei, Feliks Džeržinskij, vor den Gebäuden von Regierung und KGB unangetastet. Eine neue Note in die Identität der Stadt brachte erst das 1996 errichtete Denkmal für die in Afghanistan gefallenen weißrussischen Soldaten. Dargestellt sind erstarrte Mutterfiguren, die kompositorisch zu einer Kapelle zusammengezogen sind. Sakrale Symbolik und Traditionen des „sozialistischen Realismus“ überlagern sich. In eindrucksvoller Weise wird dabei der Mythos der Heldenstadt gebrochen. Vergegenwärtigt man sich den Einbruch der Produktionszahlen in den Schlüsselindustrien – im Jahrzehnt von 1990 bis 2000 ist die Produktion der Traktoren von 100.600 auf 22.500 und der Lastkraftwagen von 37.000 auf 13.600 zurückgegangen – wird deutlich, wie einschneidend die wirtschaftliche Neuorientierung in M. sein musste, die nach der Auflösung des gemeinsamen, von Planziffern bestimmten Marktes der sozialistischen Staaten zu erfolgen hatte.

Ob Projekte neueren Datums, wie das neue Gebäude des Hauptbahnhofs oder das unterirdische Einkaufszentrum vor dem Regierungshaus, vermögen, der Hauptstadt der Republik Weißrussland eines Tages das Flair einer europäischen Metropole zu verleihen, ist angesichts der politischen Isolierung des Landes mittelfristig zu bezweifeln. Indes ist Urbanität in M. bereits zu verspüren. Der Ort, an dem man sich trifft, befindet sich am Schnittpunkt der beiden zentralen Verkehrsachsen: Es handelt sich um den amerikanischen Schnellimbiss ›McDonald’s‹. Das Herz der Stadt versinnbildlicht damit eine Schizophrenie, von der die Städte des westlichen Europa schon lange befallen sind. Dennoch gibt es einen Hoffnungsschimmer. Auf dem „Platz der Freiheit“ (ploščadʹ Svobody/plošča Svabody), der in vorrevolutionärer Zeit den Oberen Markt – das Zentrum der Stadt – markierte, ist das historische Rathaus als Museumsbau wiedererstanden. Es sieht so aus, als erlebe das „alte“ M. – die mit der Bezeichnungen Mensk verbundene Tradition – ungewollt eine Renaissance.

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Thomas Bohn

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