Dagestan
Dagestan (russ; awar. Dagistan, kumük. Dagystan, lakk. Dagusttan, lesg. Dagustan).
Die autonome Republik D. liegt im Süden der Russischen Föderation, an der Küste des Kaspischen Meeres. D. grenzt im Westen an die autonome Republik Tschetschenien, im Nordwesten an die Region Stavropol’, im Norden an die autonome Republik Kalmückien und im Süden an die unabhängigen Staaten Aserbaidschan und Georgien. D. umfasst eine Fläche von 50.278 km² und wird administrativ in 42 Bezirke und zehn Städte eingeteilt.
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1 Geographie
Naturraum
Die Ebenen im Norden nehmen ca. die Hälfte der Fläche von D. ein, nach Süden steigt die Landschaft zum Großen Kaukasus an. 56 % des Landes bestehen aus Bergrücken. D. bedeutet „Land der Berge“ und bezieht sich ausschließlich auf das Territorium der Republik. Der Name leitet sich demnach im Unterschied zu denen der anderen autonomen Republiken Russlands nicht vom Ethnonym der Titularnation ab, die es als solche in D. nicht gibt.
Die Höhenunterschiede in der Republik sind beträchtlich: Die Kaspische Senke befindet sich teilweise 28 m u. d. M., während der höchste Berg der Republik, der Bazarbjuzi, 4466 m aufragt. In D. dominiert gemäßigtes kontinentales Klima, lediglich die südlichen Küstengebiete sind subtropischem Klima ausgesetzt. Die mittlere Temperatur im Winter beträgt zwischen –4 und –7 in den Bergen im Süden und +1 °C in den nördlichen Steppen, im Sommer entsprechend 20 und 25 °C. Die Jahresniederschläge schwanken zwischen 200 mm in den nördlichen Steppen und 800 mm in den Bergen.
Bevölkerung
D. ist die flächenmäßig größte und bevölkerungsstärkste autonome Republik des Nordkaukasus. 2005 wohnten in D. 2.640.984 Personen (= 1,9 % der Einwohner Russlands), davon 1,357 Mio. Frauen und 1,264 Mio. Männer (2004). Die Bevölkerungsdichte betrug 52,5 Einwohner pro km². 42,7 % der Bevölkerung lebten in Städten und 57,3 % auf dem Land, womit die Republik im gesamtrussischen Vergleich überdurchschnittlich ländlich geprägt ist. 2005 hatte die Hauptstadt Machačkala 466.300 Einwohner (inoffiziell dürften es erheblich mehr sein). In der zweitgrößten Stadt Chasavjurt wohnten 125.000 Menschen, in Kaspijsk 81.200. Derbent (106.200 Einwohner) nennt sich „älteste Stadt Russlands“, da an ihrer Stelle schon vor 5000 Jahren Menschen gesiedelt haben sollen.
Der letzten russischen Volkszählung von 2002 zufolge lebten Vertreter von 122 Ethnien und Subethnien in D., das damit zu den ethnisch inhomogensten Regionen der Welt zählt. Die vier größten Völker stellen zusammen ca. zwei Drittel der Bevölkerung der Republik. Nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung waren das: Awaren – 758.438 (29,4 %), Darginer – 425.526 (16,5 %), Kumüken – 365.804 (14,2 %) und Lesginer – 336.698 (13,1 %). Dazu kamen die Laken (139.732 - 5,4 %), Russen (120.875 - 4,7 %), Aserbaidschaner (111.656 - 4,3 %), Tabassaraner (110.152 - 4,3 %), Tschetschenen (87.867 - 3,4 %), Nogaier (38.168 - 1,5 %), Rutuler (24.298 - 0,9 %), Aguler (23.314 - 0,9 %), Cachuren (8168 - 0,3 %), Juden (1478 - 0,06 %), Bergjuden (1066 - 0,04 %) usw. Die meisten der autochthonen Völker weisen noch jeweils Subethnien auf (so z. B. die Awaren 14).
Die wichtigsten der in D. verbreiteten Sprachen lassen sich drei Familien zuordnen, nämlich: 1) dem Nachisch-d.ischen Zweig der nordkaukasischen Sprachfamilie, 2) den Turksprachen und 3) den indoeuropäischen Sprachen. Artikel 11 der Republikverfassung D.s von 2003 erklärt Russisch und „die Sprachen der Völker“ der Republik gleichermaßen zu Staatssprachen. Russisch besitzt eine zentrale Rolle bei der Verständigung der Nationalitäten D.s untereinander.
Nach der Republikverfassung ist D. ein weltlicher Staat ohne jede Staatsreligion. Ca. 90 % der Bevölkerung D.s bekennen sich zum Islam. Davon sind wiederum 97 % Sunniten, der Rest (v. a. Aserbaidschaner) Schiiten. Seit dem Ende der 1980er Jahre nahm der Islam auch in D. einen starken Aufschwung, was sich u. a. in der Zunahme der Zahl der Moscheen ausdrückte: Bis 1989 gab es offiziell 27, zehn Jahre später waren bereits ca. 1700 registriert. Dazu kamen elf islamische Zentren, 650 Schulen in Moscheen, 25 islamisch-theologische Lehranstalten (Medrese) und neun höhere islamische Lehranstalten. Die politische Führung der Republik ist frei von islamistischem Einfluss. Moskau macht oft „Wahhabiten“ für „antirussische Propaganda“, Spannungen und Gewalt verantwortlich, doch sind diese eine kleine und in der Bevölkerung D.s unpopuläre Minderheit.
Staat und Gesellschaft
Die letzte sowjetische Verfassung D.s von 1978 wurde am 26.7.1994 durch ein neues Grundgesetz abgelöst. Es sah einen die Exekutive leitenden Staatsrat mit 14 Mitgliedern vor, die von der 242 Mitglieder starken Verfassungsversammlung (der alle Abgeordneten des Republikparlaments sowie Mitglieder von Stadt- und Bezirksparlamenten angehören) gewählt wurden. Nach der Verfassung von 1994 durfte jede Nationalität D.s nur einen Vertreter in den Staatsrat entsenden. Republikoberhaupt, d. h. Leiter der Exekutive, ist der Vorsitzende des Staatsrates (seit 1994 der Darginer Magomedali Magomedov).
Am 10.7.2003 wurde eine neue d.ische Verfassung beschlossen, welche die Einführung des Postens eines Republikpräsidenten vorsieht. Er soll ab 2006 den Staatsrat ersetzen. Die neue Verfassung bildet das Fundament für die Tätigkeit des Präsidenten, der Regierung (mit 19 Ministerien), der Volksversammlung (Republikparlament) und des Verfassungsgerichts und regelt die örtliche Selbstverwaltung. Die Zahl der Abgeordneten der Volksversammlung wird von 121 auf 72 reduziert; sie sollen aufgrund der neuen Verfassung erstmals 2007 gewählt werden.
Die Reformpolitik des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow ermöglichte auch in D. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre die Gründung zahlreicher Parteien und Massenorganisationen. Die wichtigsten waren: Die „Awarische Volksbewegung“ (russ. Avarskij narodnyj front; entstanden 1991); die von Awaren dominierte Volksfront D.s „Imam Šamil‘ (russ. Narodnyj front imeni imama Šamilja), die einen Teil der Kumüken vereinigende Bewegung „Gleichberechtigung“ (kumük. Tenglik, russ. Ravenstvo); der „Nationalrat des kumükischen Volkes“ (russ. Narodnyj sovet kumykskogo naroda; gegründet 1991), der eine eigene autonome „Kumükische Republik“ verlangte; die 1989 geschaffene lesginische Bewegung „Einheit“ (lesg. Sadval, russ. Edinstvo), die sich das Ziel der Vereinigung mit den Lesginen Aserbaidschans zu einem Staatsgebilde „Lengiztan“ setzte und sich 1998 spaltete; die Volksfront der Tschetschenen-Akkiner „Vajnach“; die 1989 ins Leben gerufene Organisation „Einheit“ (nogai. Birlik, russ. Edinstvo), die nach der Vereinigung der Nogaier in D., Tschetschenien und der Region Stavropol‘ strebte; Nationalorganisationen der Darginer, Laken, Tabasaraner usw.
Moskau als Träger des islamischen Fundamentalismus in D. gelten die „Islamische demokratische Partei D.s“ (russ. Islamskaja demokratičeskaja partija D.a; gegründet 1990), die „Islamische Partei“ (russ. Islamskaja partija; gegründet 1990), die „Islamische Partei der Wiedergeburt“ (russ. Islamskaja partija vozroždenija; gegründet 1990, in D. seit 1991) sowie die „Islamische Partei D.s“ (russ. Islamskaja partija D.a).
Die Bedeutung der lokalen Parteien und Bewegungen D.s ist v. a. seit Mitte der 1990er Jahre stark zurückgegangen. Viele haben ihre Tätigkeit eingeschränkt oder eingestellt. Dafür sind (meist ethnisch definierte) Clans umso einflussreicher. Zudem bestehen in D. Ableger der gesamtrussischen Parteien, unter denen die dem russischen Präsidenten Vladimir Putin nahestehende Partei „Einheitliches Russland“ und die „Kommunistische Partei der Russischen Föderation“ (KPRF) am bedeutendsten sind.
Wirtschaft
An der Küste des Kaspischen Meeres finden sich die für D. bedeutenden Erdöl- und Erdgaslagerstätten. Dazu kommen Vorkommen von Steinkohle, Eisenerz, Buntmetallen, Kupferkies, Kalksteinen, Gips, Bausand usw.
Die wichtigsten Industriezweige in D. sind Erdöl- und Erdgasgewinnung, Metallverarbeitung und Maschinenbau (u. a. für die Rüstungsindustrie), Nahrungsmittelproduktion (Fisch, Wein, Konserven usw.), Elektrizitätserzeugung (v. a. in Wasserkraftwerken an den Flüssen Terek, Sulak und Samur), Herstellung von Baumaterialien, chemische Industrie u. v. m. Der Anteil der Schattenwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt der Republik beträgt Schätzungen zufolge zwei Drittel bis drei Viertel. D. gehört zu den am meisten von Subventionen abhängigen russischen Föderationssubjekten: In den 1990er Jahren kamen zwischen 71 und 85 % seines Budgets aus Moskau. Zudem zieht D. kaum ausländische Investitionen an.
D. gehörte bereits in der Zarenzeit zu den ärmsten Regionen Russlands, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Nach offiziellen Angaben lebte 2003 etwa die Hälfte der ökonomisch aktiven Bevölkerung unter der Armutsgrenze, inoffiziell sind es noch mehr. Das mittlere Einkommen in D. liegt offiziell bei 43 % des gesamtrussischen Durchschnitts. Die weit verbreitete Armut steht in Kontrast zum Reichtum einiger weniger Gewinner der postkommunistischen Transformation. Diese soziale Differenz besteht in ganz Russland, ist aber in D. besonders ausgeprägt.
2002 betrug die Arbeitslosigkeit offiziell 22 %, doch reichen andere Angaben bis zu 50 % und mehr. Nach den meisten sozioökonomischen Kennziffern (Durchschnittsgehalt, Industrieproduktion pro Einwohner, Investitionen, landwirtschaftliche Produktion pro Einwohner, Steuereinnahmen, Krankenhausbetten pro Einwohner usw.) belegt D. einen der letzten Plätze unter den Föderationssubjekten Russlands, während Korruption und sonstige Kriminalität sehr hoch sind oder zunehmen; die Rechtssicherheit ist gering.
Die an unzureichenden Investitionen leidende d.ische Landwirtschaft stützt sich traditionell auf die Viehzucht (v. a. Schafe), Weinbau und Getreideanbau (v. a. Weizen). Im Gebirgsvorland wurde sie erst nach umfangreichen Terrassierungen möglich. Nur sehr wenig landwirtschaftlich nutzbarer Grund und Boden befindet sich in Privathand.
Bildung und Kultur
2002 gab es in D. 1613 allgemeinbildende Mittelschulen mit über 426.000 Schülern sowie sechs staatliche Hochschulen mit 67.200 Studenten, davon ca. 19.000 an den 15 Fakultäten der 1931 gegründeten D.ischen Staatlichen Universität in Machačkala. Dazu kommen nichtstaatliche Schulen und Hochschulen. In den Städten und Dörfern D.s zählte man 1077 Kulturhäuser, 1031 Bibliotheken, 96 diverse Schulungseinrichtungen (darunter 41 Musikschulen und 42 Kunstschulen), zehn Nationaltheater und 15 Museen. D. ist reich an Kulturdenkmälern. Erwähnenswert sind z. B. die Verteidigungsanlagen von Derbent, die Moschee von Kumuch (11. Jh.) sowie die Festung Kala Korejš. 2002 wurden in D. ca. 80 Zeitungen und sechs Zeitschriften in 14 Sprachen herausgegeben. Es gab drei Staatsverlage und zehn Verlage von Behörden.
2 Kulturgeschichte
D. war bereits in der Steinzeit besiedelt. Seit dem 7. Jh. stießen die Araber in die Region vor und begannen mit der Verbreitung des Islam. Die völlige Islamisierung der autochthonen Völker D.s dauerte jedoch bis ins 19. Jh. Im 13. Jh. drangen die Mongolen in D. ein, und seit dem 16. Jh. konkurrierten Russen, Osmanen und Perser um Einfluss in der Region bzw. um ihren Besitz. Einen 1785 ausgebrochenen Aufstand unter der Führung von Scheich Mansur (1760–94) schlugen die Russen nach sechs Jahren nieder.
Formal wurde D. aufgrund des Vertrages von Gülistan mit Persien 1813 Teil des Zarenreiches. Ab 1817 stießen russische Truppen systematisch ins Innere D.s und Tschetscheniens vor. Der Aware Šamil’ (ca. 1796–1871), seit 1834 Imam von D. und Tschetschenien, schuf mit dem Imamat ein theokratisches Staatsgebilde und führte den Widerstand an, bis er 1859 in russische Gefangenschaft geriet. Damit war der Kaukasuskrieg entschieden, auch wenn Zusammenstöße noch bis 1864 andauerten. 1860 wurde D. zu einem russischen Gebiet (oblastʹ) mit einem Generalgouverneur an der Spitze.
1920 brachte die Sowjetregierung Russlands D. unter ihre Kontrolle, im Jahr darauf wurde es zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) erklärt. Sein politischer Status änderte sich während der Sowjetzeit (bis 1991) nicht, auch wenn es mehrere kleinere Änderungen seiner administrativen Grenzen erlebte. D.ische Völker waren – mit Ausnahme der Tschetschenen-Akkiner – nicht von den kollektiven Deportationen der 1940er Jahre betroffen. 1991 erklärte sich D. zur souveränen Republik.
Seit 1989 tritt in D. politisch motivierte Gewalt auf. Es war auch zeitweise von den (seit 1991 andauernden) Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen in und um Tschetschenien betroffen (ein Vorstoß des tschetschenischen Warlords Šamil’ Basaev nach D. scheiterte 1999 nach wenigen Wochen). D. gilt grundsätzlich als Russland gegenüber besonders loyal, eine Abspaltung stand nie ernsthaft zur Diskussion. Am 31.3.1992 unterzeichnete D. (im Unterschied zu Tschetschenien) den russischen Föderationsvertrag.
Die größte Herausforderung für die d.ische Politik ist die Erhaltung einer Balance zwischen den zahlreichen Ethnien, Clans, Interessengruppen usw. Davon sind auch die postsowjetischen Verfassungen und das komplexe Wahlrecht geprägt. Es muss bereits als Erfolg gelten, dass D. unter schwierigen politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen relative interethnische Stabilität bewahren konnte.
Gammer M. 1994: Muslim Resistance to the Tsar: Shamil and the Conquest of Chechnia and Daghestan. London. Luchterhandt O. 1999: Dagestan. Unaufhaltsamer Zerfall einer gewachsenen Kultur interethnischer Balance? (= Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik 118). Pokrovskij N. I. 2000: Kavkazskie vojny i imamat Šamilja. Moskva. Dagestan. Statističeskij sbornik 2002. Machačkala. Yemelianova G. 1999: Ethnic Nationalism, Islam and Russian Politics in the North Caucasus (with special reference to the autonomous Republic of Dagestan). Williams C., Sfikas T. D. (Hg.): Ethnicity and Nationalism in Russia, the CIS and the Baltic States. Aldershot, 120 –147. http://www.dagestan.kuliev.org/nations.htm [Stand 8.11.2004]