Bulgarisches Reich

Bulgarisches Reich (auch: Bulgarenreich).

Das erste B. R. entstand auf dem Boden der römischen Provinz Mösien als bulgarisch-slawisches Staatsgebilde. Nach dem Zerfall von Kubrats Großbulgarien war in der zweiten Hälfte des 7. Jh. eine Gruppe Bulgaren unter Führung Asparuchs nach Westen aufgebrochen und hatte sich in der Dobrudscha niedergelassen. Die Versuche des byzantinischen Kaisers Kōnstantinos IV., sie in die Gebiete nördlich der Donau zurückzudrängen, waren erfolglos geblieben. So stießen sie bis zum Balkan vor und schlossen mit den „sieben slawischen Stämmen“ und dem slawischen Stamm der Severi einen Pakt gegen Byzanz. 681 anerkannte der byzantinische Kaiser in einem Friedensvertrag mit Asparuch die Existenz des B. R. In den Protokollen des VI. Ökumenischen Konzils von Konstantinopel (680–81) wird Βουλγαρία (griech., „Bulgarien“) als neuer geographisch-politischer Begriff auf der Balkanhalbinsel erstmalig erwähnt. Hauptstadt des Reiches wurde Pliska.

Obwohl die slawische Bevölkerung zahlenmäßig stärker war, lag die politische und militärische Macht bei den zugezogenen turkstämmigen Bulgaren. Es begann ein langer Prozess der Vereinigung und ethnischen Verschmelzung der turkstämmigen Bulgaren mit der slawischen und einheimischen Bevölkerung, aus dem bis ca. Ende des 9. Jh. allmählich das bulgarische Volk hervorging. Mehrere Abkommen mit Byzanz, unterbrochen von heftigen Kriegen, sicherten die Existenz des Reiches. Der Nachfolger Asparuchs, Khan Tervel (700–21), vergrößerte das Territorium durch Zugewinn von Gebieten im Südosten (bulg. Zagorie, „hinter den Bergen“) und im Westen bis zum Fluss Timok. 716 schloss der Khan mit Kaiser Theodosios III. einen neuen Friedensvertrag ab, mit dem auch der gegenseitige Handel, Zölle und wirtschaftliche Fragen geregelt wurden. Er gilt deswegen als erster Handelsvertrag.

Unter Khan Krum (802/03–14) wurde das Herrschaftsgebiet auf Kosten des zerfallenden Awarenreiches bis zu den Flüssen Theiß im Westen und Dnjestr im Osten erweitert. Durch die Nachbarschaft zum Fränkischen Reich wuchs die politische Rolle des B. R. 809 eroberte Krum die wirtschaftlich und militär-strategisch bedeutsame Stadt Serdika (heute Sofia). Der zunächst erfolgreiche Feldzug Kaiser Nikēphoros I. gegen das B. R., der u. a. zur Zerstörung Pliskas führte, endete 811 mit der Niederlage des byzantinischen Heeres und dem Tod des Kaisers. Zwei Jahre später standen die bulgarischen Truppen vor Konstantinopel, bei dessen Belagerung Krum starb. Er erließ die ersten Gesetze des B. R. In diesen waren u. a. alle Einwohner staatsrechtlich gleichgestellt. Sein Nachfolger Khan Omurtag (814–31) nutzte die 30 Friedensjahre mit Byzanz für den Ausbau des Landes. Unter Khan Presian (836–52) erstreckte sich das B. R. schließlich bis nach Mittelmakedonien und Südalbanien. Die Annahme des Christentums (865) durch Khan Boris I. (852–89) bewirkte eine weitere Konsolidierung des Reiches.

Der orthodoxe Glauben und die durch die Schüler der Brüder Kyrill und Method im Land verbreitete slawische Schrift (Kyrilliza) erwiesen sich als die beiden Pfeiler für die Entwicklung einer selbständigen bulgarischen Kultur. Unter der Regierung Simeons I. (893–927) erreichte das erste B. R. im sog. Goldenen Zeitalter seine größte politische Macht und kulturelle Blüte. Bedeutsamkeit erlangten v. a. die Schulen von Ohrid und Preslav sowie die umfangreichen Schriften von Kliment Ochridski, Iōan Exarch und Černorizec Chrabăr. Simeon dehnte die Herrschaft nach Westen bis zur Adria, nach Süden bis zur Ägäis aus und belagerte selbst Konstantinopel. Preslav wurde zur neuen Hauptstadt. 913 erhielt Simeon den Zarentitel. Das Oberhaupt der unabhängigen bulgarischen Kirche wurde (ca. 919) zum Patriarchen ernannt.

Doch bereits unter Zar Petăr I. (927–69) setzte ein von inneren Unruhen und Territorialverlusten im Westen und Süden begleiteter Niedergang ein. 1018 wurde das Reich nach langen Kriegen von Byzanz unterworfen und das Patriarchat aufgehoben. In den folgenden ca. anderthalb Jahrhunderten kam es immer wieder zu Erhebungen der Bulgaren. 1185 organisierten die Bojarenbrüder Asen (I.) und Petăr (II.) einen Aufstand, der schließlich 1187 mit Hilfe der Kumanen zur Wiederherstellung bulgarischer Eigenstaatlichkeit führte, die von Byzanz anerkannt werden musste. Die Stadt Tărnovo wurde zum militärisch-politischen und kirchlich-kulturellen Zentrum des Reiches. Durch die 1204 geschlossene Kirchenunion mit Rom erhielt Zar Kalojan (1197–1207) von Papst Innozenz III. den Titel eines Königs (rex) verliehen. Unter Ivan Asen II. (1218–41) wurde die politische und soziale Krise überwunden.

Nach der Schlacht bei Klokotnica (1230) wurde das zweite B.-R. zum größten politischen Gebilde in Südosteuropa. 1235 konnte auch die Autonomie der bulgarischen Kirche wiederhergestellt werden. Der Einfall der Mongolen (Tataren) beendete 1241 abrupt den weiteren Aufstieg des Reiches. Nach dem Tod von Ivan Asen II. und dem Ende der Asen-Dynastie (1257) begannen Nachfolgekämpfe, die zu großen Gebietsverlusten führten. Das ausgehende 13. und beginnende 14. Jh. waren unruhige Jahrzehnte, geprägt von separatistischen Strömungen unter den Bojaren.

Der Aufstieg Serbiens und die schwere Niederlage der bulgarischen Truppen 1330 bei Velbăžd (bulg., heute Kjustendil) veränderten die Machtkonstellationen auf der Balkanhalbinsel maßgeblich. Der neue bulgarische Zar Ivan Aleksandăr (1331–71) förderte Kunst und Kultur und bemühte sich um freundschaftliche Beziehungen zu Serbien und der Walachei. Doch bereits unter seinen Söhnen kam es zur Teilung des Reiches: Ivan I. Šišman regierte ab 1371 in Tărnovo, Ivan Sracimir in Vidin. Die Dobrudscha fiel an den Bojaren Dobrotica. Die Zersplitterung schwächte das Land: 1393 fiel die Hauptstadt Tărnovo, 1396 Vidin an das Osmanische Reich.

Andreev J., Lazarov I., Pavlov P. 1994: Koj koj e v srednovekovna Bălgarija. Sofija. Crampton R. 1997: A Concise History of Bulgaria. Cambridge. Gjuzelev V. 1986: Forschungen zur Geschichte Bulgariens im Mittelalter. Wien (=Miscellanea Bulgarica Bd. 3). Härtel H.-J., Schönfeld R. 1998: Bulgarien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München. Christov Ch., Kosev D., Todorov N. (red.) 1981ff: Istorija na Bălgarija. T. 2–3. Sofija.

(Iskra Schwarcz)


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