Litauer (Preußen)

Preußisch-Litauer (auch: Kleinlitauer, litau. Lietuvininkai bzw. Mažlietuviai)

Inhaltsverzeichnis

1 Definition

Im 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. wurden Erlasse der Könige von Preußen für die Provinz Ostpreußen auch in litauischer Sprache veröffentlicht, um sie den litauischen Untertanen zugänglich zu machen, die überwiegend der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Solche Drucke, unterzeichnet mit ›Priczkus Willus‹ (Friedrich Wilhelm), ›Priczkus‹ oder ›Priderikis‹ (Friedrich) u. ä., wandten sich an Bauern, Rekruten und Soldaten einer Minderheit im Königreich, die in ihrem Siedlungsgebiet die absolute Bevölkerungsmehrheit bildete: die P.-L. oder, wie sie sich selbst meist nannten, ›Lietuvininkai‹, deutsch auch als Kleinlitauer bezeichnet.

Der Begriff P.-L. entwickelte sich aus der schon zu Anfang des 17. Jh. gebräuchlichen lateinischen Bezeichnung ›Lithuani in Borussia‹. Seit Ende des 17. Jh. wurde er in ethnographischen Beschreibungen und geographischen Studien benutzt und setzte sich schließlich auch in Schriften preußisch-litauischer Autoren durch. Der Terminus dürfte dem vielfach bezeugten preußisch-patriotischen Selbstverständnis der P.-L. entsprochen haben und diente ihnen lange zur Abgrenzung gegenüber den Žemaiten im benachbarten Großfürstentum und späteren Russisch-Litauen.

Das Siedlungsgebiet dieses westlitauischen Subethnos’ umfasste Anfang des 18. Jh. ein Areal im nordöstlichen Ostpreußen, das ungefähr dem größten Teil des heutigen „Kaliningrader Gebietes“ (russ. Kaliningradskaja Oblast) mit einer Grenzlinie von der Stadt Kaliningrad bis zum Fluss Gołdapa (poln., dt. hist. Goldap) im Süden entsprochen haben dürfte, zuzüglich des nördlich der Memel gelegenen Memellandes. Die Frage der Genese dieser litauischsprachigen Volksgruppe führte nach dem Ersten und bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu ausdauernden Meinungsverschiedenheiten zwischen deutschen und litauischen Historikern. Der Streit ist zu verstehen vor dem Hintergrund der Besetzung des Memelgebietes 1923 mit Anschluss an die Republik Litauen und litauischen Ansprüchen auf das „ethnographische Litauen“, womit eben das gesamte Klein- bzw. Preußisch-Litauen gemeint war.

Letztlich ging es immer um die Frage, ob die Volksgruppe in ihrem Siedlungsraum autochthon oder später zugewandert war. Eine abschließende und überzeugende Antwort darauf dürfte aufgrund der unzulänglichen Quellenlage nicht möglich sein. Inzwischen hat sich in der Forschung die Ansicht durchgesetzt, dass die hier ansässigen westbaltischen Stämme nach der Etablierung des Deutschen Ordens und der Assimilierung der Prußen sich mehr und mehr dem benachbarten litauischen Ethnos anschlossen und dessen ohnehin eng verwandte Sprache übernahmen. Zuwanderungen aus dem westlichen Litauen (Žemaitija) und Ansiedlung litauischer Kriegsgefangener durch den Orden sind in diesem Prozess inbegriffen. Auf jeden Fall war die Bildung der ethnischen Gruppe bis Anfang des 17. Jh. abgeschlossen und soweit ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass in preußischen Akten und Landkarten der politische Begriff ›Litthauischer Kreis‹ benutzt und im 18. Jh. die ›Provinz Litthauen‹ mit den Kreisen Gumbinnen (heute russ. Gusev), Insterburg (Černjachovsk), Labiau (Polessk), Memel (Klaipeda), Ragnit (Neman) und Tilsit (Sovetsk) als Verwaltungseinheit eingerichtet wurde.

Anfang

2 Kulturgeschichte

Die Bevölkerung des preußisch-litauischen Siedlungsgebietes wird für den Anfang des 17. Jh. auf rd. 300.000 Köpfe beziffert, der größte Teil davon L. Ethnisch Deutsche lebten nur in den wenigen Städten, sowie als Gutsherren und Verwaltungsangehörige auf dem Lande, die Dörfer waren fast ausschließlich von P.-L.n bewohnt. Diese demographische Situation änderte sich erheblich durch die 1709–11 in Preußen wütende Pestepidemie samt anschließender Hungersnot. Ihr fielen in der ›Provinz Litthauen‹ mehr als 50 % der Bevölkerung zum Opfer gezählte 8411 Hofstellen blieben völlig unbesetzt, rd. 60.000 Hufen unbearbeitet. Die zur Rekolonialisierung ins Land geladenen Bauern und Handwerker aus Westeuropa, darunter fast 10.000 protestantische Salzburger, machten zwar um die Mitte des 18. Jh. nicht wesentlich mehr als 20 % der Population aus, sie beschleunigten jedoch die Assimilierung der litauischsprachigen Landeskinder an den deutschsprachigen Ethnos, weil sie häufig deren Nachbarn in den Dörfern wurden.

Bedingungen für den sozialen Aufstieg, die Aufhebung der Erbuntertänigkeit in Preußen 1807, entwickelte Bildungsmöglichkeiten, Urbanisierung und nicht zuletzt der preußische Heeresdienst förderten Akkulturation und endlich Assimilation der P.-L. von Südwesten nach Nordosten fortschreitend so stark, dass bereits vor Beginn einer gezielten Germanisierungspolitik des Kaiserreiches ab 1871 die Zahl der Litauischsprachigen in der Provinz auf ein Drittel der Bevölkerung gesunken war. Auf der Basis von gewiss problematischen Sprachzählungen benutzten im Jahr 1900 nur noch 20 % der Einwohner des Gebietes das Litauische als Familiensprache, wobei schon Zweisprachigkeit vorausgesetzt werden muss. Die Schulpolitik des Deutschen Reiches nach 1871 und die damit verbundene weitgehende Verbannung des Litauischen aus dem Unterricht hatte allerdings zu Widerstand unter der preußisch-litauischen Bevölkerung und Petitionen an Kaiser Wilhelm I. geführt.

Damit dokumentierte sich erstmals ein unter den P.-L.n gewachsenes Bewusstsein für eine eigene kulturelle Identität, das in der Folge zur Gründung von Vereinen und Herausgabe von Zeitschriften und Zeitungen führte (z. B. ›Lietuwiszka Ceitunga‹ seit 1877, ›Lietuwiszkas Polytiszkas Laikrasztis‹ seit 1884, in „gotischen“, d. h. deutschen Lettern gedruckt). Am längsten von öffentlicher Bedeutung blieb die Sprache der P.-L. im kirchlichen Leben, sollte doch nach protestantischem Verständnis die Verkündigung in der Muttersprache der Gläubigen erfolgen. Dementsprechend gab es an der Universität Königsberg von 1718–1944 ein Litauisches Seminar, an dem v. a. zukünftige Lehrer und Theologen sprachlich für den Einsatz in litauischen Gemeinden ausgebildet wurden. Gleichwohl sank die Zahl der als P.-L. Gezählten bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges dramatisch auf etwa 100.000–110.000 ab, die meisten davon nördlich der Memel im späteren ›Memelgebiet‹ ansässig, wo sie noch rd. 57 % der Landbevölkerung ausmachten. 1921 wurde südlich der Memel in Ostpreußen nur noch in elf Pfarren regelmäßig sonntags in litauischer Sprache gepredigt, nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und mit verstärkter Repression gegen die Kleinlitauer nur noch gelegentlich, bis 1940 z. B. in Tilsit und Ragnit. Die im Deutschen Reich verbliebenen P.-L. teilten 1945 mehrheitlich das Schicksal der deutschsprachigen Bevölkerung Ostpreußens mit Flucht und Vertreibung, andere wurden nach Litauen umgesiedelt. Die memelländischen P.-L.n organisierten sich unmittelbar nach Beginn der Perestroika wieder in kulturellen Verbänden und Vereinen (›Mažoji Lietuva‹, gegr. 1989 in Klaipeda), um die Erinnerung an Kultur und Dialekt der Vorfahren zu bewahren.

Die kulturelle Identität der P.-L. war geprägt durch ihren lutherischen Glauben und dessen pietistische Orientierung in Konvertikeln („Stundenhalter“-Bewegung, litau. Surinkimas), die Treue zur Kirche nicht ausschloss. Ihre politische Identität war die des preußischen Untertanen mit ausgeprägter Anhänglichkeit an die Hohenzollernmonarchie. Beides unterschied die Volksgruppe gravierend von den katholischen L.n jenseits der Grenze im Großfürstentum und späteren „Russisch-Litauen“. Der mit dieser Identität verbundene Konservatismus der fast ausschließlich bäuerlichen P.-L. verhinderte eine wirklich breite Beteiligung an der nationalen Bewegung in Litauen seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. Die zahlenmäßig verschwindend kleine Schicht intellektuell Gebildeter allerdings nahm bedeutenden Einfluss auf die litauische Kultur.

Die ersten Druckwerke in litauischer Sprache entstanden in Preußisch-Litauen, beginnend mit der 1547 in Königsberg erschienenen ersten Übersetzung des ›Kleinen lutherischen Katechismus‹ von Martynas Mažvydas. Auch die erste vollständige Übertragung beider Testamente der Bibel wurde 1735 in Königsberg vorgelegt. Schließlich ist das erste große Werk der klassischen litauischen Literatur einem P.-L. zu verdanken: das Epos „Die Jahreszeiten“ (litau. Metai) des Pfarrers Kristijonas Donelaitis (1714–80). Bedeutend für die litauische Nationalbewegung wurden Herausgabe und Druck von Büchern und Zeitschriften in Preußisch-Litauen während der Jahre des Druckverbotes in litauischer, d. h. lateinischer Schrift im Zarenreich von 1864–1904. Massenhaft wurde diese Literatur über die Grenze geschmuggelt und in den litauischen Gouvernements Russlands verbreitet.

Insgesamt wirkte die Volksgruppe der P.-L. als Brücke für soziokulturelle, agrarisch-technische und wirtschaftliche Innovationen zwischen dem deutschen und litauischen Kulturraum. Die Sprache der P.-L., ein westlitauischer Dialekt, bietet dafür reichliche Anhaltspunkte. Sie übernahm zahlreiche – v. a. technische – Begriffe aus dem Deutschen, lituanisierte sie und gab sie so nach Litauen weiter. Umgekehrt nahmen das in Ostpreußen geläufige niederdeutsche Idiom und sogar die Hochsprache mancherlei Lituanismen auf, insbesondere aus bäuerlicher Arbeitswelt und Ernährung.

Hermann A. (Hg.) 1992: Die Grenze als Ort der Annäherung. 750 Jahre deutsch-litauische Beziehungen. Köln. Traba R. (Hg.) 2000: Selbstbewußtsein und Modernisierung: sozialkultureller Wandel in Preußisch-Litauen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Osnabrück.

(Manfred Klein)

Anfang
Views
bmu:kk