Navahrudak

Navahrudak (weißruss., russ. Novogrudok; litau. hist. Naugardukas, poln. hist. Nowogródek).

N. liegt auf einer Anhöhe der „Novogrudskischen Höhe“ (russ. Novogrudskaja vozvyšennostʹ, weißruss. Navahrudskae ŭzvyšša) oberhalb der Memel, 118–323 m ü. d. M. Seit der Unabhängigkeit der Republik Weißrussland 1991 bildet N. einen Bezirk im Gebiet Hrodna mit 30.700 Einwohnern (2004). Die Entfernung zur Hauptstadt Minsk beträgt ca. 150 km, zur Gebietsstadt Hrodna ca. 160 km und zur litauischen Hauptstadt Wilna ca. 150 km.

N. wurde im 11./12. Jh. als eines der Zentren des Fürstentums Panjamonne gegründet. 1245 nahm Fürst Mindaugas, der 1253 vermutlich auch in N. zum König von Litauen gekrönt wurde, hier seine Residenz. Kennzeichnend für das Siedlungsgebiet um N. war die ethnische Vielfalt eines kulturellen Übergangsraumes. Die Lage der Stadt fern der großen Handelsrouten erwies sich in den Kriegen zwischen Balten, dem Deutschen Orden, Tataren und Slawen als vorteilhaft. N. konnte sich innerhalb des Großfürstentums Litauen zum Zentrum der sog. Schwarzen Rus entwickeln, einer historischen Region im Becken der oberen Memel. Im 16. Jh. gehörte N. zu den am dichtesten besiedelten Gebieten des Großfürstentums Litauen, jüdische Einwohner sind seit 1484 erstmals nachweisbar. Seit 1507 bildete die Stadt das Zentrum der gleichnamigen Woiwodschaft, der Erhalt der Magdeburger Stadtrechte 1511 führte zu einem beträchtlichen Aufschwung des Handels.

In der Agrarstruktur unterschied sich die Woiwodschaft N. nach Durchführung der sog. Hufenreform (1557) deutlich von den Gebieten unter russischer Herrschaft. Eine Veränderung sowohl der Sozialstruktur als auch der Zusammensetzung der ethnischen Gruppen brachte die Ansiedlung russischer Kriegsgefangener als Leibeigene nach 1588. N. bildete eines der Zentren der 1596 gegründeten Unierten Kirche und war ab 1581 Sitz des Tribunals für das Großfürstentum Litauen.

Das 18. Jh. brachte schwere Rückschläge: Verwüstungen und Pestausbrüchen während des Nordischen Krieges (1700–21) folgte 1751 ein verheerender Brand, der N. zur Kleinstadt zurückstufte. Ungebrochen war die Bedeutung als jüdisches Siedlungszentrum. 1766 wurden 21.101 Juden in der Woiwodschaft N. gezählt, und die Rabbinerakademie (Jeschiwa) von N. erlangte im 19. Jh. überregionale Bedeutung. 1795 wurde N. durch die Dritte Teilung Polen-Litauens dem Russischen Reich eingegliedert und Kreisstadt der Gouvernements Slonim, Livland (ab 1797), Grodno (ab 1801) und Minsk (ab 1842).

Unter russischer Herrschaft verlor N. zunehmend an Bedeutung. Während die Bevölkerungszahl 1888 noch ca. 12.000 (davon 8270 Juden, 2200 Polen, 470 Weißrussen und 1160 Tataren) betragen hatte, lebten nach dem Ergebnis der Volkszählung von 1897 nur noch 7887 Menschen in N., davon 5015 Juden. Die revolutionären Ereignisse und Kriege der ersten Hälfte des 20. Jh. hinterließen deutliche Spuren in der Geschichte der Stadt. Die Revolution von 1905 fand ihren Niederschlag v. a. in einem Streik der Landarbeiter fast aller Güter des Kreises N. unter Führung gewählter Bauernkomitees. Der Erste Weltkrieg brachte schwere wirtschaftliche Schäden und die Besetzung durch deutsche Truppen (1915–18). Der Errichtung einer Sowjetregierung Anfang 1919 folgte die Einnahme durch polnische Truppen von April 1919 bis zur Eroberung durch die Rote Armee im Juli 1920. Ab 1.10.1920 wurde N. durch die Pariser Vorortverträge Teil der Republik Polen.

Die Woiwodschaft N. bildete einen der Wohnbezirke der weißrussischen Minderheit in Polen: 1931 bekannten sich fast 40 % der Einwohner zur weißrussischen Muttersprache. Sie betrieben in dem agrarisch rückständigen Gebiet kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Quote der Analphabeten unter ihnen lag bei 60–80 %. Der Anteil der Juden war nach dem Ersten Weltkrieg und dem russischen Bürgerkrieg auf ca. 11 % gesunken.

Im September 1939 wurde N. nach dem ›Geheimen Zusatzprotokoll‹ zum deutsch-russischen Nichtangriffspakt Teil der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (russ./weißruss. BSSR). Dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 folgte die Besetzung der Stadt (3.7.1941–8.7.1944). N. gehörte als Teil des ›Generalkommissariats Weißruthenien‹ zum ›Reichskommissariat Ostland‹. Am 8.12.1941 wurden in N. 3–4000 Juden erschossen, anschließend zwei getrennte Gettos errichtet, in denen die jüdische Bevölkerung des gesamten Gebietes zusammengefasst wurde, insgesamt ca. 10.000 Personen. Während in einem Getto die zur Ermordung vorgesehenen Juden untergebracht waren, nahm das andere die noch Arbeitsfähigen auf. Im Gebiet von N., im Wald von Naliboki, befand sich seit Frühjahr 1942 eines der größten – nach seinem Anführer Tuvʹja Belʹskij benannte – Partisanenlager auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion. Im Laufe des Jahres 1943 wurden die Bewohner beider Gettos in mehreren Aktionen ermordet. Nur ca. 1200 Juden konnten sich vor der Ermordung in die Wälder retten, davon ca. 100, die am 26.9.1943 durch einen Tunnel fliehen konnten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich N. als Gebietshauptstadt im Gebiet Hrodna der BSSR zu einem Zentrum der Maschinenbau- und lebensmittelverarbeitenden Industrie mit ca. 20.000 Einwohnern in den 1970er Jahren.

N. ist die Geburtsstadt des polnischen Dichters Adam Mickiewicz (1798–1855). Ihm zu Ehren gibt es in N. nicht nur ein Denkmal und ein Museum, sondern auch einen Hügel, der Ende der 20er Jahre des 20. Jh. mit Erde aus allen Ländern, in denen Mickiewicz gelebt hat, aufgeschüttet wurde. Weitere Sehenswürdigkeiten sind die Ruine der Burg, deren Anfänge aus dem 13. Jh. stammen, die orthodoxe Boris-und-Gleb-Kirche (1517/19) und die St. Nikolaus-Kirche (1780) sowie die katholische als Dominikanerkloster gegründete St. Michael-Kirche (1724).

Beyrau D., Lindner R. (Hg.) 2001: Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen. Gurevič F. 1981: Drevnij Novogrudok. Posad – okolʹnij gorod. Leningrad. http://www.novogrudok.by/history.php [Stand 14.9.2004], http://novogrudok.iatp.by/text/text_Jroniki.htm [Stand 15.9.2004], http://www2.jewishgen.org/Yizkor/Novogrudok/Novogrudok.html [15.9.2004].

(Jens Binner)

Anfang
Views
bmu:kk