Krimtataren

Krimtataren (russ. Krymskie Tatary, ukrain. Krymsʹki Tatary).

Inhaltsverzeichnis

1 Definition

Die K. sind ein muslimisches Turkvolk, dem sich gegenwärtig mehr als eine halbe Mio. Menschen auf der Halbinsel Krim (autonome Republik Krim/Ukraine), in Zentralasien (Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan), in der Russischen Föderation, in der Türkei und in weiteren Ländern Europas, Asiens und Amerikas ethnisch und kulturell zugehörig fühlen. Die Zahl der K., die in den letzten Jahren des Bestehens der Sowjetunion, besonders aber seit 1990 aus den Gebieten der ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, in die sie 1944 auf Stalins Befehl unter dem Vorwurf der Kollaboration mit der deutschen Armee deportiert worden waren (bis zu 192.000 Menschen), in die Heimat, die Krimhalbinsel, zurückkehrte, wird heute auf mehr als 250.000 (ca. 10 % der gegenwärtigen Bevölkerung der Krim) geschätzt.

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1.1 Geschichte

1.1.1 Herkunft und Siedlungsgebiet

Die ethnische Herkunft der K. ist unklar. Nach eigener Ansicht trugen Goten, pontische Griechen, Kiptschaken, Oghusen, Turkstämme der Goldenen Horde und andere ethnische Gruppen zu ihrer Ethnogenese bei, womit der historische Anspruch auf die Krim begründet wird. Sprachlich ließen sich bis zur Deportation primär zwei Untergruppen unterscheiden: das ehemals in der Nordhälfte der Krimhalbinsel gesprochene Krimtatarische, das der kiptschakischen oder Nordwestgruppe der Turksprachen zugerechnet wird, und das in der Südhälfte vertretene Krimtürkische, das der oghusischen oder Südwestgruppe zugehört. K. sind in der Regel sunnitische Muslime der hanafitischen Richtung.

Nach westlicher, sowjetischer und postsowjetischer Sicht formierten sich die Krimtataren als ethnische Gruppe im späten 13. Jh. als Folge der mongolischen Eroberung der Schwarzmeersteppe und der Krim (1239) und der Etablierung des Khanats der Goldenen Horde, das auf der Krim eine politische Symbiose mit den genuesischen Kolonien (1260-er Jahre bis 1475) einging – den Erben der byzantinischen Präsenz. Die weitere Türkisierung und Islamisierung der Bevölkerung im Laufe des 14. Jh. führte zu einer Homogenisierung der vorwiegend turksprachigen Gruppen.

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1.1.2 Khanat, Emigration und Remigration

Mit dem Niedergang der Goldenen Horde (ab der zweiten Hälfte des 14. Jh.) entstand auf der Krim eine eigene politische Dynamik, deren sich die Familie der Girāi bediente, um eine unabhängige Dynastie zu gründen (Ḫaǧǧi Girāi, regierte ca. 1427–66), die sich als Erbe der Goldenen Horde betrachtete. Mengli-Girāi (regierte 1478/9 –1515) musste zwar die osmanische Oberhoheit anerkennen (1475), konnte aber das Krimkhanat als eine der bedeutendsten Mächte Osteuropas zwischen Moskowien und Polen–Litauen etablieren.

Das 16. Jh. gilt als die politisch und kulturell glänzendste Periode. Trotz des zunehmenden osmanischen Einflusses und der Abhängigkeit vom Konsens mit den krimtatarischen Adelsfamilien konnte eine Reihe von Khanen bis 1699 (Friede von Karlowitz) eine unabhängige Politik verfolgen. Nogaier-Stämme stellten zwar einen großen Teil der Militärmacht der K., doch ist es unzutreffend, hier von einer nomadischen Kultur zu sprechen, da die Mehrzahl der Bewohner der Krim sesshaft waren, und die für den Schwarzmeerraum bedeutende Wirtschaft weit gehend auf Handel beruhte. Das heutige Selbstverständnis der K. ist v. a durch die historische Bedeutung des Khanats und dessen eigenartige kulturelle und soziale Synthese geprägt. Nach der Annexion des Krimkhanats durch Russland (1783) begann der Exodus von dessen muslimischer Bevölkerung – v. a. ins Osmanische Reich, wo sie insbesondere in Bessarabien, Bulgarien und Westanatolien angesiedelt wurden. Eine Anzahl von Mitgliedern der Elite trat auch in russische Dienste. Die russisch–türkischen Kriege des 19. Jh. führten zu weiteren Exodusbewegungen – so nach dem Krimkrieg (1853–56) und nach 1877/78.

In dem krimtatarischen Aufklärer und Schriftsteller Ismail Gaspıralı (Gasprinsky, 1851–1914), einem der maßgeblichen Vertreter der in den 1880-er Jahren an Bedeutung gewinnenden Bewegung der kulturellen Reform (Dschadidismus), die sich an alle muslimisch–türkischen Nationalitäten des Russischen Reiches richtete, sehen die K. heute den Schöpfer der krimtatarischen Nation. Der Nationalismus, der im 19. Jh. die Konstituierung von Reichsteilen des Osmanischen Reiches als unabhängige Staaten gefördert hatte, verlieh im ersten Viertel des 20. Jh. auch den K. die ideologische Grundlage, um sich selbst als eigenes Volk zu begreifen und die Krim als ihr ihnen zustehendes Vaterland zu postulieren. 1920 kam die Halbinsel unter die Kontrolle der Sowjetregierung, die 1921 die ASSR der Krim gründete und bis zum Zweiten Weltkrieg die Entwicklung der krimtatarischen nationalen Identität förderte, insbesondere in Erziehung und Kultur.

Die Vorstellung, die autochthone Bevölkerung der Krim zu sein, erlaubte es den K., ihre ethnische und kulturelle Identität auch während der Jahrzehnte des Exils in Zentralasien zu bewahren. Anders als den Tschetschenen, Inguschen, Karatschaiern, Balkaren oder Kalmücken, die nach der Rehabilitation in ihre angestammten Gebiete zurückkehren konnten, erlaubte die sowjetische Führung den K. (wie auch den Wolga-Deutschen und Meskheten dies in der Praxis nicht, obwohl auch sie rehabilitiert worden waren (1967) und weitere Erlasse die Deportation als gesetzwidrig anerkannt hatten (1972, 1974, 1989). Die Remigration (Repatriierung) während der 1980-er und 1990-er Jahre wurde daher von staatlicher Seite als illegal betrachtet und anfänglich mit Verwaltungsmaßnahmen und Gewalt behindert.

Nach einem Erlass von 1993 wurde den zurückgekehrten K. Land zugeteilt, allerdings nicht in ausreichendem Maße und nicht das frühere Eigentum. Beim 1991 einberufenen Zweiten Kurultai wurde der ›medschlis‹ (regierende Versammlung) als Organ der nationalen Selbstverwaltung gebildet, zu dessen Vorsitzendem der noch heute amtierende Mustafa Džemilev gewählt wurde, der drei Jahrzehnte lang für die Rückkehr gekämpft hatte. Der ukrainische Staat und staatliche wie private Stiftungen des In- und Auslandes beteiligen sich seither an den Investitionen in Wirtschaft, Sozialem, Verwaltung, Ausbildung und Kultur. Die Bemühungen um die Wiederbelebung der Sprache und die Restaurierung der weitgehend zerstörten muslimischen Kulturdenkmäler auf der Krim können als Symbole der Entschlossenheit gelten, sich als unwillkommene Minderheit dem Komplex von schier unlösbaren politischen, juristischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu stellen.

Chervonnaja S. 2000: Tjurkskij mir jugo–vostochnoj Evropy. Krym - Severnyj Kavkaz. Berlin. (mit dt. Res.). Fisher A. 1978: The Crimean Tatars. Stanford, CA. Williams B. 2001: The Crimean Tatars. Leiden.

(Barbara Kellner-Heinkele)

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