Astrachan (Stadt)

Astrachan (russ. Astrachanʹ)

Die Stadt A. mit ihren 501.300 Einwohnern (2005) liegt im oberen Deltabereich der Wolga, rund 60 km vom Kaspischen Meer entfernt. Ende des 20. Jh. hatte die Stadt mehr als eine halbe Million Einwohner (1992 512.000), Ende des 19. Jh. dagegen noch weniger als Hunderttausend (1888 74.000). Im Laufe des 20. Jh. wuchs sie von 1926 175.000 über 1959 295.800 bis auf 1979 458.000.

Die Stadt – auf mehreren Inseln in der Wolga gelegen – umfasst eine Fläche von etwa 500 km², ist mit ihrem Hafen ein Zentrum des Fischfangs, der Fischverarbeitung sowie des Schiffbaus und besitzt weiters auch einen internationalen Flughafen.

An der unteren Wolga hat es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder urbane Zentren gegeben. Die Lage war vorteilhaft für den Handel, hatte aber auch eine strategische Bedeutung. Erste schriftliche Zeugnisse aus dem 13. Jh. sprechen von einer Siedlung mit Namen Aschtarchan (auch Adzhirtachan, Zyrtachan u. a.), die zwölf Kilometer vom heutigen A. entfernt am rechten Wolgaufer lag. Einige Forscher gehen davon aus, dass die vom Kiewer Fürsten Svjatoslav I. Igorevič 965 zerstörte Hauptstadt des Chasarenkhanates Itil in der Nähe des heutigen A. gelegen hat war. Aschtarchan wurde 1395 von den Kriegern Timur-Lengs niedergebrannt. Von 1459 bis 1556 war A. Residenz des Khans des A.er Khanates.

Nach der Eroberung durch den Moskauer Staat wurde die Stadt 1558 als hölzerne Festung auf einer von Wolgaarmen umflossenen Anhöhe neu aufgebaut. 1582 erhielt sie eine steinerne Mauer mit acht Türmen und eine Karawanserei. Um den Kreml herum bildeten sich Freistätten (Sloboden) der A.er Tataren, Armenier und Russen. Die an der Peripherie des Moskauer Russlands gelegene Festung war den Angriffen der an den Flüssen Don, Terek und Wolga siedelnden Kosaken, der indigenen regionalen Bevölkerung und benachbarter Nachfolgereiche der ehemaligen Goldenen Horde wie des Krimkhanates ausgesetzt. Sie wehrten sich gegen die vom A.er Kreml ausgehende Herrschaft oder sahen diese und die russische Ansiedlung als Fremdherrschaft und Bedrohung an (Aufstand von 1605/06, Eroberung der Stadt durch die Donkosaken unter Stepan I. Razin 1670/71).

Im Laufe des 17. Jh. gewann A. als Transitpunkt des internationalen Rohseidehandels eine wachsende Bedeutung. Die Route von Persien über das Kaspische Meer die Wolga aufwärts an die Ostsee und nach Nord- und Westeuropa (Holland, England) war zwar ökonomisch interessant für die indischen und armenischen Großkaufleute in A., für den russischen Zaren (v. a. Pëtr I. Alekseevič war am Ausbau der Route interessiert) und auch für Schweden, sie war und blieb jedoch nur eine Nebenroute, die nie die Bedeutung des Landhandelsweges durch das Osmanische Reich zum Mittelmeer erreichte. Seit 1717 war A. Gouvernementshauptstadt, seit 1787 Bestandteil einer kaukasischen Statthalterschaft. Pëtr I. wollte aus A. eine Drehscheibe des internationalen Handels machen, über die die Handelsströme aus Persien, Indien, China sowie den mittelasiatischen Khanaten über die Wolga und Moskau oder St. Petersburg nach Nord- und Westeuropa gelenkt würden. Er ließ eine Admiralität, eine Werft und einen Hafen errichten und eine Flotte aufbauen. Vasilij N. Tatiščev setzte sich als Gouverneur A.s für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und Region ein. In der Stadt gab es im 17. und 18. Jh. große Kolonien indischer, armenischer u. a. Kaufleute. Viele westeuropäische Reisende besuchten sie in dieser Zeit und notierten ihre Eindrücke von ihren Reisen (z. B. der Holländer Jan Struys oder der deutsche Japanfahrer Engelbert Kaempfer).

Die Hoffnungen, die Pëtr I. und seine Anhänger in A. gesetzt hatten, erfüllten sich allerdings nicht. Der Fischfang (Stör, Kaviar) entwickelte sich zum wichtigsten Wirtschaftszweig, der Weinanbau blieb dagegen hinter den hohen Erwartungen zurück. Im Außenhandel A.s weitete sich zeitweise in der ersten Hälfte des 18. Jh. der Transithandel mit Rohseide und Baumwolle aus Persien durch Russland nach Nord- und Westeuropa aus, im innerrussischen Handel mit Nischni Nowgorod und Moskau blieben Salz und Fisch die wichtigsten Güter. Direkt nach dem Eisbruch im Frühjahr brachen die großen Lastkähne auf, um rechtzeitig zum großen Jahrmarkt im Sommer beim Makarev-Kloster anzukommen. Im 19. Jh. ging die wirtschaftliche Bedeutung A.s immer stärker zurück, die Stadt galt als schmutzig und wurde auch „russisches Kalkutta“ genannt. Erst Ende des 19. Jh. führte die Erdölgewinnung in Baku zu einem neuen Aufschwung. Im Bürgerkrieg 1918–20 war die Stadt zwischen Weißgardisten und der Roten Armee umkämpft. In der frühen Sowjetunion wurde die Stadt administrativ der nördlich gelegenen Nachbarstadt Wolgograd (vormals Caricyn) untergeordnet, 1943 aber zu einer Gebietshauptstadt erhoben.

Golikova N. B. 1988: Očerki po istorii gorodov Rossii konca XVII – nač. XVIII vv. Moskva. Istorija Astrachanskogo kraja. Astrachan’ 2000. Kellenbenz H. 1964: Der russische Transithandel mit dem Orient im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 12, 481–498. Panin I. I. 1997: Istoria Astrachanskogo kraja (1900–1940). Astrachan’. Šapošnikov A. S. 1956: Astrachan’. Geografičeskij očerk. Moskva. Vorob’ev V. A. 1968: Astrachanskij kreml’. Volgograd.

(Guido Hausmann)

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