Warschau (Getto)
Warschauer Getto (1940–43); größtes jüdisches Zwangswohnviertel in Polen unter der NS-Okkupation.
Nur wenige Wochen nach der deutschen Besetzung Polens im September 1939 wurde in Warschau, der damals zweitgrößten jüdischen Gemeinde der Welt, eine Zählung der Juden durchgeführt und Anfang November von der SS die Forderung nach sofortiger Bildung eines Judengettos erhoben. Der auf Betreiben der Besatzer eingerichtete sog. Judenrat und sein Vorsitzender Adam Czerniaków konnten diese Absicht durch Intervention beim Stadtkommandanten zunächst vereiteln. Zeitgleich mit mehrtägigen Pogromen polnischer Jugendbanden, die von den Besatzungsbehörden geduldet wurden, erhielt der Judenrat Ende März 1940 jedoch Anweisung, ein mehrheitlich von jüdischer Bevölkerung bewohntes Viertel in der nördlichen Innenstadt als „Seuchensperrgebiet“ von den umliegenden Straßen durch Mauern abzugrenzen. Die NS-Behörden begründeten dies als Schutzmaßnahme gegen die Ausbreitung von Epidemien und gegen weitere Ausschreitungen der polnischen gegen die jüdische Bevölkerung, die seit Dezember 1939 zum Tragen einer weißen Armbinde mit blauem Davidstern verpflichtet war. Ihre Lebensmöglichkeiten wurden durch Wohn- und Aufenthaltsverbote in einer ständig wachsenden Zahl von Straßen und ganzen Stadtteilen eingeengt.
80.000 (nach anderen Schätzungen 113.000) Polen und 138.000 von den Nationalsozialisten als Juden definierte Warschauer wechselten, zum Umzug gezwungen, die Wohnung. Schließlich umschlossen 3 m hohe Mauern mit einer Gesamtlänge von rd. 18 km, deren Bau der Judenrat zu finanzieren hatte, den sog. Jüdischen Wohnbezirk. Am 16. November wurde dieser – für die Eingeschlossenen völlig überraschend – abgeriegelt und die wenigen Ausgänge von deutschen und polnischen Polizisten und Angehörigen des ›Jüdischen Ordnungsdienstes‹ bewacht. Das Getto-Gebiet bestand aus zwei ungleich großen Teilen, die ab 1942 nur noch an einer Stelle miteinander verbunden waren. Ab Mitte Oktober 1941 wurde das unerlaubte Verlassen mit dem Tod durch Erschießen bestraft.
Das Areal wurde bis Anfang 1943 in mehreren Schritten verkleinert, zugleich wurden bis Juli 1942 aus dem Warschauer Umland sowie aus dem Deutschen Reich und dem deutsch-besetzten Ausland Zehntausende in das W. G. zwangsweise umgesiedelt. Auf 4 km² (2,4 %) des Stadtgebiets waren schließlich ca. 400.000 Einwohner (rd. 30 %) zusammengepfercht; auf jeden Wohnraum entfielen im Schnitt 6–7 Personen. Tausende vegetierten in Notunterkünften oder blieben obdachlos.
Die Bildung des Gettos ging einher mit der Enteignung des Besitzes und dem Verlust des Arbeitsplatzes jenseits der Mauern, einer zunehmenden Entfremdung von Polen und Juden sowie einer Drosselung des Warenverkehrs und besonders der Nahrungsmittelzufuhr. Sie war überwiegend auf den organisierten Schmuggel angewiesen, der von rasant steigenden Lebensmittelpreisen begleitet wurde, die für einen großen Teil der Getto-Insassen bald kaum noch erschwinglich waren. Von Hunger geschwächt, fielen immer mehr Menschen Krankheiten (v. a. Typhus) zum Opfer, die sich angesichts katastrophaler hygienischer Verhältnisse ausbreiten konnten. Die Sozialfürsorge konnte der Aushungerung und allgemeinen Verelendung mit der Einrichtung von Suppenküchen kaum gegensteuern. In manchen Monaten starben bis zu 6000 Menschen.
Nur 65.000 Gettobewohner waren „beschäftigt“, davon rd. 6000 im Judenrat und etwa 2000 im ›Jüdischen Ordnungsdienst‹. Seit Dezember 1939 galt Arbeitszwang „für alle [männlichen] Juden vom 14. bis zum 60. Lebensjahr“. Die Besatzer wiesen den Judenrat an, sog. Arbeitsbataillone (Bataliony Pracy) zu bilden, die „bei lagermäßiger Unterbringung“ unter verheerenden Bedingungen Zwangsarbeit zu verrichten hatten; im August 1940 umfassten sie 10.600 Personen. Im Frühjahr 1941 wurden im W. G. Werkstätten eingerichtet, in denen jüdische Facharbeiter Beschäftigung fanden. Ende 1941 verlegten deutsche Rüstungsbetriebe Fertigungsstätten ins W. G., in denen bald die Mehrheit der Zwangsarbeiter tätig war.
Jüdische politische Parteien und Jugendorganisationen wirkten im Untergrund weiter; sie gaben Flugblätter heraus und unterstützten das von Emanuel Ringelblum geleitete Archiv, das die NS-Verbrechen dokumentierte. Auch das kulturelle Leben und Bildungsinitiativen fanden teilweise weiter im Geheimen statt. Unter den Insassen des W.G.s herrschte die Hoffnung, dass der Krieg und die deutsche Besatzung Polens bald enden würden. Daher galt es, bis zu diesem Zeitpunkt auszuharren. 1941/42 gelangten Nachrichten über die antijüdischen Massenverbrechen der Einsatzgruppen im Westen der Sowjetunion in das W. G. Nachdem ein NS-„Vernichtungskommando“ die Lubliner Juden deportiert hatte, zählten die Warschauer Juden darauf, dass die Besatzer es nicht wagen würden, auf gleiche Weise gegen ihre viel größere Gemeinschaft vorzugehen. Doch begann am 22.7.1942 die unter dem Kommando von Hermann Höfle von SS, Polizei, nichtdeutschen Hilfstruppen und vom ›Jüdischen Ordnungsdienst‹ äußerst brutal durchgeführte „Räumung“ des W. G.s, in deren Verlauf bis zum 12. September eine tägliche Quote von 6000 Menschen – so die NS-Propaganda – „nach Osten umgesiedelt“ wurde. Tatsächlich brachten die vom „Umschlagplatz“ des W. G.s abfahrenden Eisenbahn-Güterwagen insgesamt 250.000–300.000 Menschen in das NS-Vernichtungslager Treblinka. Die Selbstverwaltung brach zusammen, und der Judenrat verwandelte sich in ein Ausführungsorgan der SS.
Im nun teilweise menschenleeren W. G. verblieben etwa 60.000 meist jüngere und kräftigere Personen, die fast zur Hälfte aus nicht registrierten „Illegalen“ bestanden. Aus dem W. G. war ein großes Arbeitslager geworden, in dem alle registrierten Insassen für die deutsche Kriegsproduktion arbeiteten. Im Innenleben des sog. Restgettos spielten nun Widerstandsgruppen, die dem Judenrat die Autorität zunehmend streitig machten, eine immer größere Rolle. Tausende versuchten, durch Flucht und Untertauchen auf der „arischen Seite“ dem drohenden Tod zu entkommen. Das Restgetto wurde bei der Niederschlagung des W. G.-Aufstands im April und Mai 1943 von SS, Polizei und Wehrmachtstruppen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung völlig zerstört.
Die Entrechtung und erzwungene Absonderung der Juden Warschaus und seines Umlandes, ihre im W. G. mit Absicht verfolgte Aushungerung und Verelendung, die eine enorme Sterblichkeit zur Folge hatten, sowie der schließliche Massenmord an den Getto-Insassen vor Ort und in Treblinka war eines der monströsesten unter den von NS-Deutschland betriebenen Verbrechen an der Menschheit.
Czerniaków A. 1986: Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939-1942. München. Engelking B., Leociak J. 2001: Getto warszawskie. Przewodnik po nieistniejącym mieście. Warszawa. Sakowska R. 1999: Menschen im Ghetto. Die jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau 1939-1943. Osnabrück.