Awaren (-reich)

Awaren (latein. Avares)

Die A. bildeten ein frühmittelalterliches Reich, das um 552 durch Zusammenschluss und Westwanderung ethnisch und sprachlich heterogener Personengruppen (die sich aus einem reiternomadischen Großverband gelöst hatten) der nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer gelegenen Steppen entstand und von 567–etwa 800 den Donau-Karpatenraum herrschaftlich und kulturell dominierte. Schriftliche Selbstzeugnisse der A. sind nicht vorhanden. Die Forschung ist neben relativ reichen archäologischen Zeugnissen auf die wenigen überlieferten Chroniken, Annalen und Urkunden byzantinischer, fränkischer, langobardischer, römischer, persischer und westtürkischer Autoren angewiesen. Personennamen von A. sind mit Ausnahme der Frühzeit Mitte des 6. Jh. und der Spätzeit um 800 nicht bekannt. Sie deuten auf eine turksprachliche Zugehörigkeit der bzw. vieler A. hin.

Die awarische Geschichte kann v. a. anhand der archäologischen Funde in drei unterschiedliche Phasen unterteilt werden:

Die erste Zeitspanne von ca. 552–ca. 630 ist verglichen mit den späteren Epochen durch eine größere Zahl an schriftlichen Quellen bezeugt, die über die außerordentlich regen diplomatischen und militärischen Aktivitäten des
Reich der Awaren um 600
Khaganats Auskunft geben. Um 559 erschien der neu formierte etwa 20.000–30.000 Krieger umfassende von einem Khagan geführte reiternomadische Verband im Gebiet nördlich der unteren Donau. Es folgten langwierige Verhandlungen mit dem Oströmischen Reich um Jahrgelder und die Erlangung eines Föderaten-Status ohne dauerhafte Ergebnisse. Unter Führung ihres ersten Khagans Baian gelang den A. 567/68 durch vertragliche Vereinbarungen mit den Langobarden die friedliche Inbesitznahme großer Teile Pannoniens und des späteren Siebenbürgens. Die nach Italien abziehenden Langobarden und die zahlreichen sich ihnen anschließenden ›gentes‹ hinterließen in dem „alten gentilen Ballungsraum“ an der mittleren Donau und der Theiß ein Vakuum, das die A. und die wenig später einwandernden Slawen neu auffüllten.

Das in der Tradition eurasischer Steppenvölker stehende awarische Khaganat hatte dabei mutmaßlich den Anspruch einer mindestens symbolischen Oberhoheit über die in alle Himmelsrichtungen angrenzenden Gebiete. Das würde die folgenden opferreichen Kampagnen, etwa gegen die fränkischen Merowinger im Westen, erklären. Heftige jahrzehntelange für den Zusammenhalt des Herrschaftsverbandes überlebensnotwendige militärische Auseinandersetzungen lieferte sich das Khaganat darüber hinaus mit Byzanz. Erwähnenswert sind dabei besonders die Kämpfe zur Zeit des Kaisers Maurikios und die für die A. katastrophal endende Belagerung Konstantinopels im Jahre 626. Für die oströmischen Balkanprovinzen und dabei in erster Linie die ohnehin bereits geschwächten Städtelandschaften wirkten sich die Kampagnen der A. und ihrer slawischen Hilfstruppen verheerend aus. Zusammen mit schweren inneren Krisen des Reiches löste sich so die Donaugrenze nach 602 völlig auf. Die byzantinische Herrschaft über den Balkan brach weitestgehend und langfristig zusammen. Das awarische Khaganat trug somit indirekt wohl wesentlich zur Slawisierung und Ruralisierung des südöstlichen Europa bei. Kaiserliche Jahrgelder und die Beute aus den Feldzügen gegen Byzantiner, Franken und Langobarden wirkten innerhalb des A.-Reiches stark loyalitätsbindend und galten als Symbole des – auch religiös interpretierten – „Kriegsglückes“. Dieser Nimbus ging durch die Katastrophe von 626 verloren und der Herrschaftsverband geriet in eine tiefe Krise.

Für die zweite Phase des A.-Reiches (bis etwa 680/90) sind kaum schriftliche Zeugnisse überliefert. In byzantinischen Quellen werden die A. nach ca. 680 nicht mehr erwähnt. Von der politischen Inaktivität der A. zeugen das Aufkommen der slawischen Fürstentümer der Karantaner und Kroaten am Rande der südöstlichen Alpen, an den Flüssen Drau, Save und Una sowie der slawisch dominierte Herrschaftsverband unter Samo. Teilgruppen von A. wanderten nach Bayern, Italien und in Regionen östlich der Karpaten zu den Bulgaren ab.

Die dritte Phase der awarischen Geschichte umfaßt die Zeit bis ca. 810/20. Zu dieser liegen wenige fränkische, langobardische und andere westlich-lateinische Quellen vor. Die gentile Kriegerschicht muß in dieser Zeit sehr klein gewesen sein. Die A. hatten ihre – für die naturräumlichen Gegebenheiten des Karpatenbeckens ungeeigneten – (halb)nomadischen Lebensformen zugunsten bäuerlicher Sesshaftigkeit größtenteils aufgegeben und waren im 8. Jh. bereits teilweise slawisiert. Von den spätawarischen Khaganen gingen kaum noch militärische Aktivitäten aus. Eine reale Fragmentierung des Herrschaftsverbandes schon vor den Feldzügen Karls I. des Großen ist durchaus vorstellbar. Aus den letzten Jahrzehnten des A.-Reiches (etwa 780–810) sind in fränkischen Quellen einige seiner Titel und Würden sowie wenige Personennamen belegt. Zwischen ca. 782–805, besonders aber durch die Feldzüge der Jahre 791 und 796 unterwarfen die Karolinger das A.-Reich und erbeuteten den berühmten „A.-schatz“. Awarische Vasallenherrschaften unter den Karolingern sind bis ins zweite Jahrzehnt des 9. Jh. belegbar. In dieser Zeit kam es durch die Ausweitung der karolingischen Reichskirchenstrukturen und verschiedene Missionstätigkeiten auch zu einer allmählichen Christianisierung der slawischen und awarischen Bevölkerung in Pannonien.

Die A. als Ethnikum starben nicht im biologischen Sinne aus, sondern gingen in den slawischen Ethnien auf und slawisierten sich v. a. durch die „Verbäuerlichung“ breiter Schichten. Einzelne Gruppen formierten sich dann innerhalb des Bulgarischen Reiches neu. Der letzte schriftliche Beleg über die namentliche Existenz von A. stammt aus einer karolingischen Quelle von 822. Die Annahme einer ethnischen und sprachlichen Verbindung zwischen A. und Magyaren bzw. den magyarischen Szeklern ist aufgrund des Fehlens schriftlicher und archäologischer Befunde sowie der Ergebnisse der historisch-ethnographischen Forschungen der letzten drei Jahrzehnte nicht belegbar.

Pohl W. 2002: Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. München.

(Meinolf Arens)

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