Charkow

Charkow (ukrain. Charkiv, russ. hist. Char´kov).

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Die Stadt C. liegt im Nordosten der Ukraine nahe der Grenze zu Russland auf einer Höhe von 152 m. Das 1.470.902 Einwohner (2001) zählende C. ist heute die zweitgrößte Stadt des Landes, das Stadtgebiet umfasst 306 km².

C. war und ist ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum. Günstig wirkte sich seine Lage inmitten der fruchtbaren Schwarzerdegebiete auf die Landwirtschaft aus. Die Stadt entwickelte sich bereits im 18. und 19. Jh. zu einem Handelszentrum mit einigen wichtigen Jahrmärkten und profitierte von seiner vorteilhaften geographischen Lage zwischen Kiew im Westen, dem östlich gelegenen russischen Schwarzerdegebiet, Moskau im Norden sowie dem Donbass, Kaukasus und der Krim im Südosten und Süden. Auch ein Brand 1733 und Pestausbrüche 1738 und 1741 konnten diese Entwicklung nicht abbrechen. Die Eisenbahn förderte nach 1869 die Entwicklung der Stadt zu einem Verkehrs-, Finanz- und in der Folge auch industriellen Zentrum. Die Nahrungsmittelindustrie (etwa Bierbrauereien), einige Landmaschinenfabriken und Eisenbahnwerkstätten begannen Ende des 19. Jh. das Antlitz der Stadt zu verändern. Gleichzeitig unterstützten Intellektuelle eine im Vergleich zu anderen Städten starke Arbeiterbewegung und die Gründung sozialistischer Parteien (1900 „Revolutionäre Ukrainische Partei“).

In der sowjetischen Zeit entstand in C. eines der größten industriellen Zentren der Sowjetukraine und der gesamten Sowjetunion. Besonders hervorheben lassen sich die Maschinenbauindustrie (u. a. das 1931 gegründete, seinerzeit größte Traktorenwerk der Welt, 1934 ein riesiges Turbinenwerk), die Metall verarbeitende, elektrotechnische und Nahrungsmittelindustrie, nach 1945 neben der Panzerbau-, auch die Flugzeugbau- und Raketenbauindustrie. Die Stadt war ein sowjetisches und sie ist bis heute ein ukrainisches Zentrum der Rüstungsindustrie, das nach 1991 in der unabhängigen Ukraine zunächst in eine tiefe wirtschaftliche Krise geriet.

Die wirtschaftlichen Möglichkeiten bewirkten eine schnelle Bevölkerungszunahme und sozialen Wandel. 1787 lebten nur etwa 11.000 Menschen in C. Im Laufe des 19. Jh. zogen vor allem ukrainische und russische Bauern auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. Aber auch Beamte, Kaufleute und Unternehmer, Vertreter der sog. freien Berufe u. a. fanden hier Arbeit, unter ihnen eine wachsende Zahl von Deutschen und Juden. 1856 lag die Bevölkerungszahl bei 35.600, 1881 bei 128.500, 1914 bei 244.700. Akkulturation an die russische Sprache im Prozess der Land-Stadtmigration und sozialen Aufstiegs sowie die Unterdrückung der ukrainischen Sprache durch die zarische Politik seit 1863 erklären die weitgehende Dominanz der russischen Sprache in C. Ende des 19. Jh.

Die Bevölkerung der Stadt wuchs im 20. Jh. weiter deutlich an: während des Ersten Weltkrieges durch die Verlegung von Fabriken von den Frontgebieten um 55,9% auf 1917 382.000 (darunter alleine 20.000 sich 1917 stark radikalisierende lettische Arbeiter; 1926 417.000, 1939 833.000, 1959 953.000, 1970 1.223.000 und 1985 1.554.000 Einwohner). Die Ukrainisierungspolitik der 1920er Jahre führte nur zu einem kurzfristigen Wandel des öffentlichen Sprachgebrauchs, denn seit den 1930er Jahren dominierte in der Stadt wieder die russische Sprache, auch unter der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit (1926 38 % Ukrainer, 37 % Russen, 19,5 % Juden).

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2 Kulturgeschichte

C. entstand in der Mitte des 17. Jh. als Festung gegen die Krimtataren östlich des in der gleichen Zeit gegründeten Kosakenhetmanates am Zusammenfluss der beiden kleinen Flüsse Charkiv und Lopan. Das Gründungsjahr lässt sich nicht eindeutig bestimmen, am häufigsten werden die Jahre 1654, 1655 und 1656 angegeben. Der Stadtname wird auf den Namen des Flusses C. oder einen legendären Kosaken mit Namen Charko zurückgeführt. Kosaken und Bauern aus den weiter westlich gelegenen, umkämpften und verwüsteten ukrainischen Siedlungsgebieten sowie Moskauer Dienstleute zogen in die neue Festung und Ansiedlung und das umliegende Steppengebiet, das formal dem Moskauer Staat unterstand, aber lange Zeit von Kumanen und Tataren beherrscht wurde.

Dieses Sloboda-Ukraine genannte Gebiet umfasste ein Netzwerk von Festungen und sog. Freistätten (russ. slobody). C. erhielt recht früh eine regionale administrative Bedeutung. Das sich über Polens südöstliche Grenze hinaus ausbreitende Magdeburger Recht erreichte das Gebiet und die Stadt zwar nicht,jedoch wurde zwischen 1659 und 1765 von C. aus das C.er Kosakenheer befehligt. Dann hob der Zarenstaat das System der Kosakenregimenter auf und erhob die Stadt zum Zentrum eines Slobodsko-Ukrainischen (ukr. Slobids’ko-Ukrainischen) Gouvernements, das 1780–96 durch eine Statthalterschaft (russ. namestničestvo) ersetzt wurde. Von 1835 bis 1925 war es die Hauptstadt des Gouvernements C. (1835–82 auch Sitz des Generalgouverneurs von C., Poltava und Černigov. Der Zarenstaat integrierte die Bevölkerung von Stadt und Region im Laufe des 18. Jh. in seine bis 1917 gültige Ständeordnung. C. erhielt in der katharinäischen Zeit eine neue Stadtanlage und eine Auftragsverwaltung, die 1870 eine städtische Selbstverwaltung mit umfangreicheren Kompetenzen ablöste.

Im Dezember 1917 rief der „Erste Ukrainische Sowjetkongress“ in C. die Ukrainische Sowjetrepublik aus, Anfang 1918 war C. kurzzeitig Hauptstadt der Doneck-Krywoj Roger (ukr. Donec-Kryvyj-Riher) Sowjetrepublik, Mitte Dezember 1919 rückte die Rote Armee erneut in C. ein, etablierte die dritte Sowjetukrainische Regierung und rief das im Nordosten der neu gegründeten Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) gelegene C. zur Hauptstadt aus. Die Verlagerung der Hauptstadt nach Kiew 1934 zog die administrative Rückstufung von C. in den Rang eines Gebietszentrums nach sich.

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Aber C. war nicht nur ein bedeutendes administratives Zentrum (auch als Zentrum einer Kirchenprovinz, eines Gerichtssitzes und eines Militärbezirkes). Es war auch ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum. 1734 entstand hier mit dem Kollegium des Maria Schutz-Klosters die in den ukrainischen Siedlungsgebieten nach der „Kiewer Mohyla-Akademie“ (Kyjevo-Mohiljansʹka akademija) zweitwichtigste Lehranstalt, an der auch der bedeutende ukrainische Philosoph Hryhorij Skovoroda (1722–94) lehrte. Die 1804 gegründete Universität war eine der ersten Universitäten Russlands und die erste Universität auf dem Territorium der heutigen Ukraine. Die Stadt konnte ihre Bedeutung als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum in der zweiten Hälfte des 19. Jh. durch die Gründung von Fachhochschulen (1873 ein Veterinärinstitut, 1885 ein Technologisches Institut) weiter steigern. Ausgehend von der Universität, an der eine Druckerei angeschlossen war, bildete sich im 19. Jh. ein lebendiges kulturelles Leben in der Stadt, mit einer Presse und einer Vielzahl von gelehrten, kulturellen, aber auch geselligen Vereinigungen.

Mädchen und Frauen war der Besuch der meisten Mittelschulen sowie der Hochschulen im Zarenstaat verboten. Doch zeigt die Gründung des ersten Institutes für adlige Töchter in den ukrainischen Gebieten in C. im Jahre 1812, einer bekannten und zunächst geheimen Sonntagsschule für Frauen zwischen 1862 und 1919, sowie die Einrichtung höherer Frauenkurse Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. (mit einem Universitäten vergleichbaren Ausbildungsniveau), das sich Mädchen und Frauen erfolgreich eigene Wege in das berufliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben erstritten.

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Die Universität hatte in der ersten Hälfte des 19. Jh. (besonders vor der Gründung und Eröffnung der Universität des Heiligen Volodymyr in Kiev 1834) eine wichtige Bedeutung für die frühe ukrainische nationale Bewegung, weil hier ukrainische Gelehrte Pionierarbeiten im Bereich der ukrainischen Sprache, Literatur und Geschichte schufen (die sog. C.er Romantische Schule, zu der etwa Izmail I. Sreznevskij und Mykola I. Kostomarov zählten. Im frühen 19. Jh. Zeit lehrten auch eine Reihe Wissenschaftler aus Westeuropa an der Universität, unter ihnen waren zahlreiche deutsche Professoren. Gleichzeitig erschienen eine Reihe russischsprachiger Zeitungen und Zeitschriften. Die russische Sprache verbreitete sich im Laufe des 19. Jh. in der Stadt immer mehr und Ende des 19. bzw. anfangs des 20. Jh. war C. eine vornehmlich russischsprachige Stadt mit einer großen ukrainischsprachigen Minderheit.

In den 1920er und frühen 1930er Jahren entstanden – zum Teil aus der Konkursmasse der nach der Etablierung der Sowjetherrschaft geschlossenen Universität und Fachhochschulen – in der sowjetukrainischen Hauptstadt eine Reihe neuer Hochschulen. 1933 wurde die Universität aber wiederbegründet und es folgte in den nächsten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer Hoch- und Fachhochschulen, die die Stadt zu einem der wichtigsten kulturellen und wissenschaftlichen Zentren der sowjetischen Ukraine und der Sowjetunion machte. Das gigantische, Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre neu angelegte Regierungszentrum im Norden des historischen Zentrums der Stadt mit seinen repräsentativen Gebäuden um einen riesigen Platz, der 1930–33 entworfene neue Generalplan der Stadt, die Anlage der neuen Gartenstadt neben dem großen Traktorenwerk, das neue Denkmal für Taras H. Ševčenko (1935) und das (nur) geplante Opernhaus sowie die gleichzeitige Zerstörung einiger alter Kirchen (etwa der Kirche des Hl. Nikolaus) zeugen von den neuen Gestaltungsinteressen. Eine herausragende Bedeutung hatte C. als Zentrum der ukrainischen kulturellen Renaissance in den 1920er Jahren für die sowjetukrainische Kunst, Literatur und Architektur. Eine junge Generation ukrainischer Schriftsteller (Vasyl’ M. Blakytnyj, Jurij K. Smolyč, Volodomyr M. Sosjura, Pavlo H. Tyčyna, Mykola Chvylʹovyj) gründete literarisch-künstlerische Vereinigungen wie ›Hart‹, ›Plug‹ (ukr. ›Pluh‹) und ›Vaplite‹, das staatliche ukrainische dramaturgische Theater ›Berezil‹ des Theaterregisseurs ›Les´ Kurbas‹ siedelte 1926 von Kiew nach C. über, konstruktivistische Architektur wurde diskutiert und realisiert. Diese Phase endete nach 1932, als das ukrainische Kulturleben erneut stark unterdrückt, viele Künstler und Wissenschaftler unterdrückt und umgebracht wurden.

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C. war und ist auch ein wichtiges wirtschaftliches Zentrum. Günstig wirkte sich seine Lage inmitten der fruchtbaren Schwarzerdegebiete auf die Landwirtschaft aus. Die Stadt entwickelte sich bereits im 18. und 19. Jh. zu einem Handelszentrum mit einigen wichtigen Jahrmärkten und profitierte von seiner vorteilhaften geographischen Lage zwischen Kiew im Westen, dem östlich gelegenen russischen Schwarzerdegebiet, Moskau im Norden sowie dem Donbass, Kaukasus und der Krim im Südosten und Süden.

C. und seine Umgebung waren von den Auswirkungen des Hungerterrors von 1932–33 neben der Kiewer Region am stärksten betroffen.

Der Parteifunktionär Pavel P. Postyšev (1887–1939), bereits 1923–30 von Moskau in die Ukraine geschickt, war zwischen 1933 und 1937 als zweiter Parteisekretär der USSR und erster Parteisekretär der Parteiorganisationen von C. und Kiew für den wachsenden Terror innerhalb und außerhalb der Partei der Bolschewiki verantwortlich.

Die Bevölkerung hatte gerade den Hungerterror und den Terror überlebt, als am 24.10.1941 deutsche Truppen die Stadt einnahmen. Die Rote Armee hatte vor dem Rückzug viele Gebäude gesprengt und die Einwohner, die nicht fliehen konnten, ohne Lebensmittel zurückgelassen. Die deutschen Besatzer trieben die C.er Juden in dem nahe gelegenen Waldstück Drobyc´kyj Jar zusammen und ermordeten sie, Tausende Menschen starben an Hunger und durch Krankheiten, die Zahl der verschickten Ostarbeiter wird auf insgesamt 60.000 geschätzt, die Zahl der Toten auf etwa 100.000, die lokale Industrie und viele Wohnhäuser wurden zerstört. Die Rote Armee konnte die Besatzer Mitte Februar 1943 nur kurzfristig aus der Stadt vertreiben, endgültig befreit wurde sie erst am 23. 08. 1943. Es wird geschätzt, dass in der Stadt während der Besatzungszeit bis zu 300.000 Menschen umkamen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jh. entwickelte sich C. zum Bildungszentrum der Ukraine mit heute 42 Universitäten und Hochschulen, es ist ein Verkehrsknotenpunkt (Flughafen usw.), ein industrielles und kulturelles Zentrum.

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(Guido Hausmann)

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