Usbeken

Usbeken (usb. O’zbek, pl. O’zbeklar)

Der Begriff U. bezeichnet heute die Titularnation der Republik Usbekistan (1924–91 Usbekische SSR). Die Mehrzahl der Usbeken (rd. 20,8 Mio.) lebt in der Republik Usbekistan, wo sie 80 % der Gesamtbevölkerung stellen. Bedeutende usbekische Minderheiten leben in den Nachbarrepubliken: ca. 1,7 Mio. in Tadschikistan (25 % der Bevölkerung), rund 630.000 in Kirgistan, rund 440.000 in Turkmenistan, etwa 420.000 in Kasachstan und ca. 2,2 Mio. in Afghanistan. Diese Zahlen sind jedoch nur Schätzwerte.

Die von U. bewohnten Gebiete (ausgenommen Afghanistan) gelangten in der zweiten Hälfte des 19. Jh. unter russische Herrschaft und wurden nach der Oktoberrevolution Bestandteil der Sowjetunion. 1924 wurde die Sowjetrepublik Usbekistan gegründet. Das Konzept eines modernen usbekischen Volkes (›xalq‹ – der Begriff umfasst die Bedeutungen von Volk und Nation) ist eng mit dieser Republikgründung verknüpft. Die usbekische Nationalbewegung ist seither von staatlicher Seite bestimmt, getragen und kontrolliert worden. Die Republik und ihre Titularnation sehen sich als Erbe der Hochkulturen Transoxaniens, das das Kerngebiet des heutigen Usbekistan ausmacht. Die vom 15. bis ins 20. Jh. gebräuchliche Literatursprache Tschagataisch wurde dementsprechend zum Alt-Usbekischen; ausgewählte Baudenkmäler, Musik, Küche und Trachten wurden Bestandteil des usbekischen nationalen Erbes (›meros‹) und Marker der nationalen Kultur. Hervorgehoben und für die usbekische Nationalgeschichte vereinnahmt werden v. a. mittelalterliche islamische Gelehrte wie Avicenna oder der Begründer der Dynastie der Timuriden, Timur, der seit der Unabhängigkeit Usbekistans von der Republikführung unter Islam Karimov als nationale Integrationsfigur zelebriert wird.

Theorien der Ethnogenese des modernen usbekischen Volkes sind im Laufe des 20. Jh. vorwiegend von sowjetischen – usbekischen wie russischen – Historikern und Ethnologen formuliert worden. Die Version, die sich schließlich durchgesetzt hat und das heutige Selbstverständnis des usbekischen Nationalbewusstseins bestimmt, geht davon aus, dass im usbekischen Volk sowohl die sesshaften iranischen „Ureinwohner“ Transoxaniens wie seit dem 6. Jh. eingewanderte und sesshaft gewordene türkische Nomaden aufgegangen seien. Historisch trugen diese Bevölkerungsgruppen verschiedene Namen und lebten in einander ablösenden, zumeist von nomadischen Eliten beherrschten Reichen. Die Bezeichnung U. rührt von der Stammeskonföderation der U. her, die zu Beginn des 16. Jh. unter der Führung des Dschingisiden Muḥammad Šaybānī Ḫān (1451–1510) Transoxanien eroberte und dort das usbekische Khanat errichtete. Erst mit der Gründung der Sowjetrepublik Usbekistan 1924 sei die Bezeichnung U. für ein Ethnos etabliert worden, dessen Konsolidierung bereits lange zuvor erfolgt sei.

Anfang

Verfolgt man den Weg, den die Gruppenbezeichnung U. genommen hat, so ergibt sich ein anderes Bild. Sie geht zurück auf die Gefolgschaft des von 1312 bis 1341 regierenden Anführers der Goldenen Horde Özbeg Khan, eines wichtigen Förderers des Aufstiegs Moskaus zum vorherrschenden russischen Teilfürstentum unter Ivan I. Danilovič. In der Mitte des 15. Jh. beherrschte die Stammeskonföderation der U. die zentralen eurasischen Steppengebiete des heutigen Kasachstan.

In der zweiten Hälfte des 15. Jh. machten sich jedoch Abspaltungstendenzen bemerkbar und aus dem abgespaltenen Teil entstand die Könfoderation –und später das Volk –der Kasachen. Muḥammad Šaybānī Ḫān gab die zentralen Steppengebiete auf und setzte sich mit den Seinen in den Oasengebieten Transoxaniens fest. Dort gründete er das usbekische Khanat, das bald in die Khanate von Buchara und Xiva (Xorazm) zerfiel, zu denen im 18. Jh. das Khanat von Qo’qon als aufsteigende Regionalmacht hinzukam. Bis zu Beginn des 20. Jh. war Usbeke in Transoxanien die Bezeichnung für die Nachkommen der Eroberer und bezeichnete einerseits politische Eliten, andererseits Stämme, die sich nomadische Lebensweise und tribale Strukturen bewahrt hatten. Im Unterschied zu ihnen wurde die Masse der Bevölkerung Transoxaniens mit den aus ihrer Sicht pejorativen Begriffen Sarten bzw. Tadschiken bezeichnet, die nicht tribal organisierte sesshafte Oasenbewohner als sozio-kulturelle Kategorie benannten. Nach der russischen Eroberung wurden die Gebiete als Generalgouvernement Turkestan Bestandteil des Russischen Reiches. Buchara (1868) und Xiva (1873) blieben als formal selbständige Protektorate erhalten, das Khanat Qo’qon wurde 1875 annektiert.

Russische Orientalisten und Kolonialbeamte versuchten die Bevölkerung des Generalgouvernements Turkestan nach den im europäischen Kontext gängigen Kriterien sprachlich und ethnisch zu klassifizieren, wodurch sie die Selbstvergewisserung der Bevölkerung beeinflussten. Sie übernahmen den Begriff Sarte als Sammelbezeichnung für die Bevölkerung Turkestans, verwendeten ihn aber als Ethnonym und bezeichneten auch die Sprache offiziell als sartisch (die russische Volkszählung von 1897 erhob Sprache zu einem zentralen Erfassungskriterium). Der Begriff hatte allerdings für die Bevölkerung, die ihn aufgrund seiner pejorativen Konnotation ablehnte, kaum Bedeutung als Eigenbezeichnung. Die Zuordnung zu Residenz- oder Abstammungsgemeinschaften spielte die wichtigste Rolle.

Anfang

Im späten 19. Jh. kamen in Zentralasien Nationalbewegungen auf, deren Anfänge in der Auseinandersetzung mit der russischen Herrschaft und den von ihren Vertretern auf die Bevölkerung der Region angewendeten Konzepten zu suchen sind. Die Betonung der türkischen Herkunft war diesen Bewegungen gemein. Ein iranisch-tadschikisches Erbe fügten sie nicht in ihre Konzeptionen ein, bzw. versuchten dessen Turkisierung. Verschiedene Bezeichnungen und Konzepte der Nation konkurrierten bis 1924 miteinander; v. a. ein ganz Turkestan umfassendes Konzept der Einheit verschiedener Turkvölker ist hier zu nennen. Entscheidungen des sowjetischen Staates waren schließlich dafür ausschlaggebend, dass sich das Usbekistan-Konzept durchsetzte. Die Gestalt der Vorstellungen von der usbekischen Nation ist jedoch in der Region selbst geformt worden. Der offizielle sowjetische Diskurs nahm die usbekische Nation als primordiale Gemeinschaft und untersuchte, bzw. konstruierte ihre Ethnogenese auf die beschriebene Weise. Diesem Ethnogenesekonzept entsprechend wurden drei „subethnische“ Gruppen benannt, aus denen sich das usbekische Ethnos zusammensetze:

1. die sesshafte, ursprünglich iranischsprachige „Urbevölkerung“ der Oasen, 2. nomadische Turkstämme, die zwischen dem 6. Jh. (erstes türkisches Reich) und der Eroberung durch die Šaybānīd-Dynastie in das Gebiet des heutigen Usbekistan einwanderten und dort sesshaft wurden („frühe Stämme“), 3. Nachfahren der mit den Šaybānīden aus dem Steppengebiet eingewanderten Stämme, die erst zu Beginn des 20. Jh. sesshaft wurden („späte Stamme“). Die Bedeutung letzterer für die Ethnogenese des usbekischen Volkes wird auf die Namensgebung beschränkt; die Stämme selbst seien von der vorhandenen Bevölkerung vollständig assimiliert worden. Die Zeit der „Konsolidierung“ des usbekischen Ethnos wird zumeist auf einen früheren Zeitraum datiert, der zwischen dem 9. und dem 16. Jh. liegt. Zur Unterscheidung von dem usbekischen Ethnos insgesamt werden die U. unter Muḥammad Šaybānī Ḫān als „nomadisierende U.“ bezeichnet (›qo’chmanchi o’zbeklar‹).

Die Geschichte der usbekischen Nationalbewegung ist wissenschaftlich bislang kaum untersucht. Vielmehr wurde und wird oft auf die Künstlichkeit und Konstruiertheit der usbekischen Nation hinzuweisen, die den Menschen im Zuge einer Politik des divide et impera als etwas Fremdes übergestülpt worden sei. Erwartungen, Usbekistan werde das Ende der Sowjetunion nicht überleben, haben sich aber nicht bestätigt. In den 67 Jahren seiner Existenz als Sowjetrepublik ist Usbekistan für einen bedeutenden Teil seiner Bewohner ein stabiler Bezugspunkt geworden. Die Zugehörigkeit zur usbekischen Staatsnation ist ein wesentlicher Faktor ihrer Selbstidentifikation. Dazu haben die kulturellen Maßnahmen aus der Sowjetzeit mit einem modernen Schulsystem und der Pflege materieller Kultur erheblich beigetragen. Usbekisch-nationales Selbstbewusstsein formierte sich in der Perestroika-Zeit zwischen 1986 und 1991 in Volksfronten, zu deren Schwerpunktthemen die Aufwertung der usbekischen Sprache gegenüber dem Russischen gehörte. Im unabhängigen Usbekistan wird das Nation-building mit nur geringfügigen Abweichungen in den Bahnen der Sowjetzeit fortgesetzt. Der Staat betreibt eine aktive Usbekisierungspolitik. Diese hat den offiziell als U. registrierten Anteil der Gesamtbevölkerung seit der Unabhängigkeit von knapp 72 % auf ca. 80 % steigen lassen. Dennoch sind sub- und supraethnische Selbstidentifikationen bei den U. noch immer von Bedeutung, wie die Zugehörigkeit zu bestimmten Residenzgemeinschaften, Regionalgemeinschaften, Clans oder Stämmen. Sie werden auch politisch wirksam.

Schwierig ist das Verhältnis zu den Tadschiken, deren nationales Geschichtsbild auf dasselbe historische Erbe zurückgreift. Unterschiede in der materiellen Kultur können kaum behauptet werden. Große Teile der Bevölkerung in Zentralusbekistan sind zweisprachig (usbekisch/tadschikisch) und können daher sowohl für eine usbekische wie eine tadschikische Nationszugehörigkeit optieren. Die usbekische Regierung versucht, Äußerungen tadschikischen Nationalbewusstseins in der Republik zu unterdrücken.

Anfang

Bezugsterritorium der usbekischen Nation ist die Republik Usbekistan: von keiner Seite sind bisher Bestrebungen geäußert worden, die Vereinigung mit den U. in Afghanistan zu suchen. Die U. im Norden Afghanistans sind außerhalb der sowjetisch-usbekischen Nationswerdung geblieben. Es bestehen Verwandtschaftsbeziehungen und gleiche Stammeszugehörigkeiten; doch grenzen sich die U. Afghanistans deutlich von denen Usbekistans ab –wie auch verschiedene usbekische Solidargemeinschaften in Afghanistan untereinander.

Transoxanien ist seit dem 8. Jh. islamisch. Buchara gehörte zu den Zentren islamischer Religiösität und Gelehrtheit; der Islam wurzelte tief im Alltagsleben der Bevölkerung. Die U. sind mehrheitlich Muslime, Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Von großer Bedeutung ist auch der sog. Volksislam. Mit der Naqshbandiya-Bewegung hat einer der bedeutendsten Sufi-Orden in der Gegend von Buchara seinen Ausgang genommen. Die Bevölkerung galt sowohl im Zarenreich wie in der Sowjetunion als besonders „rückständig“ und „fanatisch gläubig“. Tatsächlich begann bereits zu Beginn des 20. Jh. im Kontext der Reformbewegung des Djadidismus eine Säkularisierung des Islam und seine Aufhebung in einem nationalen Selbstverständnis. „Muslim“ wurde in Abgrenzung von den christlichen Russen zu einer Eigenbezeichnung, die insofern ethnische Konnotationen annahm, als auch der Terminus „muslimische Sprache“ verwendet wurde. Die anti-islamistische Politik der Sowjetunion hat wesentlich dazu beigetragen, dass Elemente des sog. Parallel- oder Volksislam wesentliche Bestandteile einer säkularen Nationalkultur geworden sind. Unter diesen Vorzeichen steht auch die Wiederbelebung des Islam unter den U. seit dem Ende der Sowjetunion. Die Regierung Usbekistans propagiert den Islam ebenfalls als Bestandteil der Nationalkultur und bekämpft jede Form von politischem „Islamismus“.

Abramson D. 2002: Identity counts. The Soviet legacy and the census in Uzbekistan. Arel D., Kertzer D. (Hg.): Census and Identity. The Politic of Race, Ethnicity, and Language in National Censuses, Cambridge, 176–201. Baldauf I. 1991: Some thoughts on the making of the Uzbek nation. Cahiers du monde russe et soviétique, 32/1, 79–96. Fragner B. 1989: Probleme der Nationswerdung der Usbeken und Tadshiken, Kappeler A., Simon G., Brunner G. (Hg.): Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Identität, Politik, Widerstand. Köln, 19–34. Khalid A. 2003: A secular Islam. Nation, state, and religion in Uzbekistan, International Journal of Middle East Studies 35, 573–598. Koroteyeva V., Makarova E. 1998: The Assertion of Uzbek National Identity. Nativization or State-Building Process?, Atabaki T., O’Kane J. (Hg.): Post-Soviet Central Asia, London, 137–143. Rasuly-Paleczek G. 1998: Ethnic Identity versus Nationalism. The Uzbeks of Northeastern Afghanistan and the Afghan State, Atabaki T., O’Kane J. (Hg.): Post-Soviet Central Asia, London, 204–230. The World Factbook (http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/index.html) (Stand 08.09.07)

(Gero Fedtke)

Anfang
Views
bmu:kk