Juden (Überblick)


Juden (im europäischen Osten)

Inhaltsverzeichnis

1 Historiographische Voraussetzungen

Geschichte und Kultur der J. im östlichen Europa sind unter drei Voraussetzungen zu betrachten: 1. der Einheit von Religion, Ethnizität und Soziabilität, 2. der Vielsprachigkeit, bestehend aus Alltags-, Schrift- und Landessprache, sowie 3. der Dialektik von Exklusivität und Exklusion. Dabei gilt es, das Wechselspiel zwischen innerjüdischen und äußeren Prozessen zu berücksichtigen, die Besonderheiten genauso zu würdigen wie die universalen, paradigmatischen Aspekte. Im Laufe von 2000 Jahren Diaspora brachten die J. in Abgrenzung gegen, Auseinandersetzung mit und Anpassung an die Umgebung auch im östlichen Europa vielgestaltige Kulturen hervor, worauf die christlichen Gesellschaften mit einem religiös bestimmten Antijudaismus bzw. seit dem letzten Drittel des 19. Jh. mit politisch motiviertem Antisemitismus reagierten.

Es gibt keine einheitliche Historiographie oder „Meistererzählung“ über die J. im östlichen Europa, statt dessen zerfällt diese in verschiedene Ideolekte. Die nichtjüdische Nationalgeschichtsschreibung subsumiert sie den jeweiligen Ländergeschichten. Dort erscheinen die J. als Sondergruppe bzw. als Minderheit. Die jüdische Nationalgeschichtsschreibung betrachtet sie im Rahmen der Vorgeschichte des Staates Israel. Simon Dubnows universale Diasporageschichte unterscheidet nach Perioden und Zentren. Sein Hauptaugenmerk richtete sich auf das aschkenasische polnisch-litauisch-russische Zentrum seit dem 16. Jh., das im Zuge der Siedlungsbewegungen zwischen dem 13. und dem 15. Jh. von Westen her im v. a. durch den Antagonismus von West- und Ostkirche und durch eine ethnisch-konfessionelle Gemengelage gekennzeichneten ostmitteleuropäischen Grenzland entstand. Nimmt man aber das gesamte östliche Europa zwischen Kaspischem, Schwarzem und Adriatischem Meer im Süden und Ostsee im Norden in den Blick, so zeigt sich, dass die Geschichte der J. im östlichen Europa bis in die römische Zeit zurückreicht und auch orientalische sowie sephardische J. einen Anteil daran haben.

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2 Räumliche und kulturelle Gliederungen

Wanderungen von J. sind seit dem sog. Babylonischen Exil Ende des 6. Jh. v. Chr. zu beobachten, aus welchem eine die Zeiten überdauernde beachtliche Diaspora entstand. Diese war, was Berufs- und Siedlungsstrukturen betrifft, überwiegend urban orientiert. In hellenistischer und in römischer Zeit, v. a. seit der Zerschlagung des Hasmonäer-Staats 63 v. Chr. und mehr noch nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer um 70 n. Chr. verstärkte sich diese Orientierung und vermehrten sich auch die Wanderungen. Seitdem waren die J. auf vielfältige Weise in Kolonisierungsprozesse eingebunden.

Die ersten kompakten jüdischen Siedlungen im südöstlichen Europa bezeugte Philo von Alexandria für Griechenland bereits Mitte des 2. Jh. v. Chr., in Thessalien, Böotien, Makedonien, Ätolien, Attika, Argos und Korinth, auf dem Peloponnes und auf den Inseln Euböa, Zypern und Kreta. Eine bedeutende Gruppe unter ihnen waren die sog. Hafenjuden. Sie repräsentierten seitdem ein spezifisches soziokulturelles Phänomen. Die im Laufe der Geschichte bedeutsamste „Hafenjuden“-Gemeinde entstand in Saloniki (seit 140 v. Chr.). Ihren Kern bildeten J. aus Alexandria (Ägypten). Weitere aus „Hafenjuden“ gebildete Siedlungen der Antike befanden sich am Bosporus von aus Judäa (Palästina) Vertriebenen, auf der Krim (um die Zeitenwende in Jevpatorija, Feodosija und Kerč) sowie an der Adria (Salona [heute kroat. Solin]). Durch religiös wie machtpolitisch begründete Vertreibungen aus diesen Zentren, aber auch durch wirtschaftlich motivierte Migrationen entstanden im christlich-byzantinischen Reich Gemeinden auch im Inland der Provinzen Dalmatien, Mazedonien, Mösien und Thrakien, in den späteren Ländern Albanien, Bulgarien, Griechenland.

Aus Babylonien und aus Byzanz gelangten bereits seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten J. in das geographisch leicht zugängliche, politisch zerrissene und ethnokonfessionell heterogene Südkaukasien, zunächst auf die Gebiete der heutigen Länder Armenien und Georgien. Seit dem 3. Jh., v. a. aber seit der islamischen Eroberung der Region im 7. Jh. und bis zur Invasion der Mongolen im 13. Jh. bildeten sich durch stetige Migrationen auf dem Gebiet Aserbaidschans und in Dagestan Gemeinden der „Bergjuden“ (Taty).

Seit dem Ende des 8. Jh. stellte das legendär gewordene Reich der Chasaren ein bedeutsames Zentrum jüdischen Lebens in Kaukasien dar, das sich vom Dnjestr bis zum Aralsee erstreckte und dessen Hafenstädte (Olbia [Ukraine], Sarkel, Tanais [russ. Azov], Phanagoreia, Gorgippia [russ. Anapa], Derbent [Dagestan], Itil, Dahistan [turkmen. Misrian]) die Küsten des Schwarzen und des Kaspischen Meeres bzw. die Unterläufe der Flüsse des Gebiets säumten. Mit den Wanderungen bulgarischer Turkvölker von der Wolga und der Magyaren aus dem Ural kamen jüdische Chasaren u. a. auch nach Bulgarien und Ungarn. Nach der Zerstörung des Chasarenreiches (um 970) durch die Kiewer Rus gelangten J. aus „Chasarien“ in das Gebiet der heutigen Ukraine. Seit Beginn des 19. Jh. lebten die J. Georgiens, Armeniens, Dagestans und Aserbaidschans unter russischer Herrschaft.

Eine besondere Gruppe stellten die Karäer dar, die sich zur Zeit erster Fragmentierungen innerhalb des Islam in Babylonien von den rabbinischen J. abgespalten hatten, d. h. von den J. der nachbiblischen Zeit, die sich in erster Linie auf die „mündliche Lehre“ des Talmud berufen. Die Karäer ließen sich bereits zur Zeit des Chasarenreichs auf der Krim nieder. In Folge der litauischen Eroberungsfeldzüge ins Khanat der Goldenen Horde und bis an die Küste des Schwarzen Meeres im 14. Jh. gelangten sie ins Großfürstentum Litauen und von dort nach Polen (Lemberg, Ostgalizien). Vom 16.–18. Jh. repräsentierten die Gemeinden in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik die Zentren der karäischen Kultur. Im 19. Jh. ging die Führungsposition an die Gemeinden auf der Krim, nun unter russischer Herrschaft, über. Einer Herkunft und Religion sowie mit ähnlichem Gemeinschaftsverständnis, differierten J. und Karäer in ihren Auffassungen von der Tradition. Nichtjuden spielten die beiden Gruppen gegeneinander aus und wussten auf diese Weise die Differenzen zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Die Karäer wurden in der Geschichte wiederholt gegenüber den J. privilegiert, von Sondersteuern, Restriktionen und Verfolgungen ausgenommen.

Die ersten gesicherten Zeugnisse jüdischer Siedlung in Ostmitteleuropa reichen bis ins frühe Mittelalter zurück. Überliefert ist zunächst die Präsenz von zumeist Händlern aus Byzanz und „Chasarien“ im Donauraum, in Böhmen, Pannonien und Dakien (späterhin Ungarn bzw. Rumänien), aber auch in Polen. Seit dem ersten Kreuzzug (1096–99) wanderten Aschkenasim in Reaktion auf die Verfolgungen und Vertreibungen im christlichen West- und Mitteleuropa sowie Werbungen der polnischen Herrscher folgend nach Polen ein. Mit der Vereinigung der polnischen Teilfürstentümer im 14. Jh., der Entstehung der Adelsrepublik und ihrer Expansion erweiterten sich auch die aschkenasischen Siedlungen in Ostmitteleuropa. Sie dehnten sich allmählich nach Osten aus. Im Zuge der Union Polens mit Litauen (1385) kamen vermehrt J. ins Großfürstentum Litauen und nach dem Ende des Ordensstaates und mit der Entstehung der polnischen Lehnsherrschaft über Kurland und Lettgallen (1561) auch in das heutige Gebiet des südwestlichen und südöstlichen Lettland (Kurzeme mit Zemgale und Latgale).

J. beteiligten sich insbesondere in den neuerworbenen Ostprovinzen der Adelsrepublik an der Kolonisation. Demzufolge verdichteten sich dort die jüdischen Siedlungen. Auf dem Höhepunkt des Polnisch-Litauischen ›Common Wealth‹, erstreckte sich das aschkenasische Siedlungsgebiet in Polen von Posen bis nach Smolensk (heute Weißrussland) und von Kurland bis nach Podolien (heute Ukraine). Zwischen dem ›Heiligen Römischen Reich deutscher Nation‹ im Westen, Byzanz im Süden und dem sich konsolidierenden Russland (Moskauer Rus) im Osten bildeten sich seit dem 13. Jh. in den ostmitteleuropäischen Adelsstaaten Polen, Böhmen und Ungarn landsmannschaftliche Zusammenschlüsse aschkenasischer Gemeinden heraus, die dank der gemeinsamen Herkunft, einer differenzierten Gemeinschaftlichkeit und ihrer einheitlichen vormodernen deutschen Akkulturation traditionell, sprachlich, rechtlich sowie durch Handelsbeziehungen einen überregionalen Zusammenhang wahrten.

Nach den Vertreibungen aus Spanien 1492 und wenige Jahre später aus Portugal im Zuge der Inquisition ließen sich flüchtige Sephardim v. a. im südöstlichen Europa nieder und gründeten Gemeinden an der Küste der Adria, in Saloniki und Thrakien. Sie mischten sich mit den J. aus dem byzantinischen Reich, den Romaniot (griech.-latein., „Romanioten“), überformten deren Gemeinden und dominierten späterhin in Bulgarien, Griechenland, Albanien und Montenegro. Sie bildeten dort die Mehrheit innerhalb der jüdischen Minderheit und prägten auf dem Balkan eine eigene, sephardische Kultur. Auf dem Seeweg gelangten Sephardim auch an die Küsten rund um die Ostsee. Mancherorts siedelte der polnische Adel in seinen Privatstädten – wie in Zamość – sephardische Kaufleute an. Adel und Herrscher in Polen, Litauen und in Russland hielten sich sephardische Leib- und Hofärzte. Insgesamt betrachtet aber blieben die Sephardim in Polen und Litauen im besonderen und im gesamten Ostmitteleuropa im allgemeinen eine unerhebliche Gruppe.

Der Aufstieg der Imperien – des Osmanischen, des Habsburger und des Russischen Reiches – zwischen dem 15. und dem 17. Jh. zog erneute Wanderungen der J. im östlichen Europa nach sich. „Romanioten“ und sephardische J. gingen nach Norden und ließen sich in den vom Osmanischen Reich neu eroberten Gebieten Ungarns, in Albanien, Bessarabien, Bosnien, Bulgarien, Podolien, Serbien sowie im osmanischen Vasallenfürstentum Walachei nieder. Aschkenasim flüchteten aus dem Kriegsgebiet im österreichisch-ungarischen Grenzland unter osmanische Herrschaft, da sie dort mehr Toleranz als von den christlichen Regierungen erfuhren. Andere wanderten innerhalb der expandierenden Habsburgermonarchie von Westen nach Osten und nach Südosten, vermehrten die Gemeinden in Böhmen, Mähren, Schlesien, Ungarn (ab 1526), Siebenbürgen (ab 1711), Dalmatien, Slawonien (ab 1797) und in Görz (östliches Friaul, um 1500/1815). Angesichts der kriegerischen Westexpansion Russlands seit dem 16. Jh., insbesondere während der Polnisch-Kosakischen Kriege Mitte des 17. Jh. flüchteten Aschkenasim aus Polen-Litauen südwestwärts in die Habsburgermonarchie, nach Böhmen und Mähren, aber auch in die Fürstentümer Moldau und Walachei unter osmanischer Oberhoheit.

In dieser Zeit bildete sich v. a. im Grenzland zwischen Ostmittel- und Südosteuropa eine ausgeprägte Gemengelage von „Romanioten“ und Sephardim, J. chasarischer Herkunft und Aschkenasim. Hingegen dominierten in Ostmitteleuropa die Aschkenasim, während die Sephardim im Süden die größten und einflussreichsten Gemeinden ausmachten. Der ethnischen entsprach die sprachliche Gliederung. In den jüdischen Gemeinden Ostmitteleuropas war im Alltag Jiddisch vorherrschend, in denen Südosteuropas Ladino, gleichwohl blieb für beide Gruppen im Religiösen wie im Rechtlichen Hebräisch maßgebend. Daneben gab es Enklaven des Griechischen bei den „Romanioten“, eines türkischen Dialekts bei den Karäern auf der Krim, in Litauen und in Galizien und des Jüdisch-Tatischen bei den „Bergjuden“ im Südkaukasus.

Diese sich im Verlauf des 17. Jh. festigende geographische Gliederung der Großgruppen blieb im wesentlichen bis zum Ende des 19. Jh. erhalten, wobei die Aschkenasim im östlichen Europa numerisch wie kulturell weitaus bedeutender waren als die orientalischen und sephardischen J. Auch wurden sie stärker in den Prozess der Moderne hineingezogen, so dass ihre Geschichte einen eigenen Verlauf nahm, wobei die Übergänge zwischen West und Ost wie zwischen Nord und Süd infolge der imperialen Eroberungspolitiken und der sich verändernden Einflusssphären fließend blieben. Das Zusammenspiel dynamischer äußerer wie innerer soziokultureller, ökonomischer und politischer Faktoren bewirkte, dass Ostmittel- und Osteuropa zusammengenommen im 19. und zu Beginn des 20. Jh. das Zentrum der jüdischen Diaspora bildeten, was tiefe Spuren in der Geschichte der Regionen hinterließ.

Die Teilungen Polen-Litauens führten Ende des 18. Jh. zu neuen politischen und infolgedessen soziokulturellen Grenzziehungen durch die jüdische Diaspora und ließen darüber hinaus die Kluft der aschkenasischen zu den unter osmanischer Herrschaft lebenden orientalischen und sephardischen J. größer werden. Die aschkenasischen Gemeinden lebten nunmehr auf drei weitere Großreiche verteilt: deren Hauptteil in den sog. polnischen Ostgebieten (poln. Kresy wschodnie), in Kurland, in Kongresspolen und Bessarabien kam unter russische Herrschaft, ein kleinerer in Ostgalizien an Habsburg und der kleinste in Westpreußen und Posen an Preußen. Damit begann für die J. in Ostmittel- und Osteuropa das imperiale Zeitalter und zugleich der Prozess der Moderne, innerjüdisch gekennzeichnet durch das Vordringen der jüdischen Aufklärungsbewegung ›Haskala‹ und von außen markiert durch die Integrationspolitik des aufgeklärten Absolutismus wie des „offiziellen Nationalismus“.

Das 19. Jh. gab weitere Impulse und ließ neue soziale Muster und Gliederungen entstehen. Der Hauptanteil der Aschkenasim lebte nun unter russischer Herrschaft. Konstitutiv für diese Gruppe war die politische und rechtliche Teilung zwischen Kongresspolen und der Kresy-Region sowie die allmähliche Festschreibung des sog. Ansiedlungsrayons für J. auf fünfzehn Gouvernements im westlichen Grenzland des Russischen Reiches (bis 1835), der im Kern dem traditionellen Siedlungsgebiet entsprach und nach heutigem Maßstab mehrere Länder, nämlich Litauen, große Teile Weißrusslands, der Ukraine und der Moldau umfasste.

Seit Beginn des 19. Jh. nahmen in Maßen auch J. an der inneren Kolonisation Russlands teil, so dass jüdische Siedlungen im Süden des Reiches entstanden (so in Cherson, Ekaterinoslav [heute ukrain. Dnipropetrovsʹk] und im Gouvernement Taurien). In diesem Zusammenhang stellte die urbane Enklave Odessa einen Sonderfall dar. Die Hafen- und Freihandelsstadt bot unbeschränkte Niederlassung und entwickelte sich für die J. im Russischen Reich zu einem „Laboratorium der Moderne“. Akkulturierte J. wurden in Russland seit Mitte des 19. Jh. durch Siedlungsfreiheit privilegiert, so dass neuartige Gemeinden außerhalb des Ansiedlungsrayons entstanden: z. B. Gemeinden der Kantonisten im nordöstlichen Estland, in Reval und Dorpat (heute Tallinn und Tartu) oder in der Hafenstadt Nikolaev (heute ukrain. Mykolajiv) am Schwarzen Meer und in den Großstadtgemeinden in St. Petersburg und Moskau.

Allmählich bildeten sich neue Zäsuren, Sprach- und Kulturgrenzen, heraus. Dem Programm der Haskala-Bewegung entsprechend erneuerte sich seit Ende des 18. und während der ersten Hälfte des 19. Jh. zunächst die vormoderne deutsche Akkulturation der Aschkenasim; daneben entstand eine moderne hebräische Sprachkultur. Von Westen her drang das Reformjudentum ins östliche Europa und etablierte sich im Laufe des 19. Jh. in Ostmitteleuropa sowie in den urbanen Zentren jüdischen Lebens in Osteuropa (Wilna, Riga, Odessa, St. Petersburg, Moskau). Die Neologen in Ungarn wurden seine eigenwilligste und stärkste Bastion. Sodann bildeten sich in dialektischer Konsequenz neue, regionale Idiome und Kulturen wie religiöse Gegenbewegungen. In Warschau entstand eine moderne polnisch-jüdische Kultur, in Odessa, St. Petersburg und Moskau eine russisch-jüdische. Daneben wuchs eine regional variierende (polnisch, litwakisch, ukrainisch und bessarabisch) jiddische Kultur. In Abgrenzung gegen das Reformjudentum formierten sich die traditionellen, die orthodoxen und die chassidischen J. Aber die markanteste Grenzlinie war rechtlicher Art und wurde bis 1867 gezogen. Sie verlief zwischen den Ländern, in denen der Sonderstatus der J. aufgehoben und ihnen die Emanzipation gewährt (in der Habsburgermonarchie, in Preußen, im russisch regierten Kongresspolen), und solchen, in denen sie ihnen verweigert wurde (Rumänien, Russisches Reich). Unter dem Druck der fortdauernden rechtlichen Ungleichbehandlung, politischer Repressionen ebenso wie der Entstehung eines modernen Antisemitismus v. a. in Rumänien und Russland verhärteten und vertieften sich die Sprach- und Kulturgrenzen. Nationale konkurrierten und überschnitten sich mit revolutionären Bewegungen. Die daraus resultierenden Spaltungen führten zu neuen Gliederungen der jüdischen Diaspora im östlichen Europa. Die Wende zum 20. Jh. war von wiederkehrenden, politisch provozierten, teils auch staatlich tolerierten Pogromen, verstärkt antisemitischen regierungspolitischen Maßnahmen gegenüber den J., von Isolation und Verarmung und infolgedessen von einer massenhaften Migration der J. aus Rumänien, Russland und Polen nach Westen – v. a. in die USA, aber auch nach Westeuropa, Palästina und Südamerika – gekennzeichnet.

Die Ostfront des Ersten Weltkriegs verlief mitten durch das Siedlungsgebiet der J. im östlichen Europa und brachte Vertreibungen und Zwangsdeportationen mit sich. Im Geschehen des Ersten Weltkriegs löste sich der Ansiedlungsrayon auf, so dass seitdem auch für J. Migrationen nach Osten, ins Innere Russlands, möglich wurden. Der Zerfall der Imperien, die Entstehung der Sowjetunion und der Aufstieg der Nationalstaaten gliederten die Diaspora neu. Das traditionelle aschkenasische Siedlungsgebiet wurde noch einmal auseinander gerissen, Ostmitteleuropa in kleine, nationalstaatliche Einheiten untergliedert und zwischen ihnen und der Sowjetunion eine fast hermetische Grenze errichtet. In Südosteuropa entstanden nach den bereits bestehenden Nationalstaaten Griechenland und Bulgarien Albanien und – als „dreinamiger Nationalstaat der Serben, Kroaten und Slowenen“ – Jugoslawien. In vielen Fällen blieben die überkommenen landsmannschaftlichen Verbindungen der J. erhalten. Sie wurden nun in nationalstaatliche Rahmen überführt (z. B. Groß- und Kleinpolen, Böhmen und Mähren, in reduzierter Form: Ungarn, Litauen, Lettland). Aber andernorts wurden gänzlich heterogene Regionen bzw. jüdische Gruppen miteinander verknüpft und einem Staat unterstellt, extrem ausgeprägt in Rumänien: die deutsch akkulturierte Bukowina, das chassidische, z. T. auch russisch akkulturierte Bessarabien und das ungarisch akkulturierte überwiegend orthodoxe Siebenbürgen mit der rumänisch-akkulturierten Gemeinde von Bukarest.

Die J. im östlichen Zwischenkriegseuropa waren nun nach den neuen Ländergrenzen auf den Status nationalstaatlich gegliederter Minderheiten fixiert; dies um so mehr als das Haupteinwanderungsland USA seit Beginn der 1920er Jahre die Quoten stark reduzierte. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland ging für die J. mit Emigration nach Westen und Flucht und schließlich Vertreibung nach Osten einher. Zurückweisungen (durch Polen, die stalinistische Sowjetunion) machten den J. ihre ausweglose Zwangslage deutlich. Der Zweite Weltkrieg steigerte die Vertreibungen zu ethnischen Säuberungen und systematischer Vernichtung. Die Nationalsozialisten und ihre Helfer ermordeten Millionen von J. im östlichen Europa. Wurden sie in Polen und der Tschechoslowakei zumeist in Vernichtungslagern isoliert und dort umgebracht, so trieb man sie weiter im Osten (Litauen, Lettland, Weißrussland, Ukraine, Russland) vor den Augen der Öffentlichkeit an die Ränder der Ortschaften, um sie dort zu erschießen, oder ließ sie in Gettos verhungern.

Sonderfälle waren die profaschistischen Vasallenstaaten: In Ungarn begann die systematische Ermordung der J. erst 1944 mit der deutschen Besatzung, so dass ein Großteil der Juden in Budapest überlebte. Rumänien wandte regional unterschiedliche, aber kaum weniger grausame Methoden der J.verfolgung als das NS-Regime an. Im mit Deutschland verbündeten Königreich Bulgarien rettete die Fürsprache führender Kräfte in Staat und Gesellschaft einen Großteil der Juden, die nach dem Krieg jedoch das Land Richtung Israel verließen. Der Holocaust zerstörte die Lebenswelt und die Kultur der J. in Ostmittel- und weitgehend auch in Südosteuropa – mit Ausnahme von Enklaven wie Budapest und Bukarest. Hingegen bestanden Relikte jüdischer Lebenswelt im sowjetischen Osteuropa, in stark reduzierter und kontrollierter Form als atheistische, mit der Staatsideologie konforme besondere Nationalkultur und Soziabilität wie als Oppositionskultur im Untergrund fort. Seit Perestroika und nach dem Zerfall der Sowjetunion bzw. des sozialistischen Staatenverbunds entstehen im gesamten östlichen Europa v. a. in den Großstädten erneut jüdische Gemeinden.

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3 Die Lebens- und Gemeinschaftsform der jüdischen Gemeinde

Keine ethnokonfessionelle Diaspora verfügt über eine so differenzierte und erprobte Sozialethik und Sozialverfassung mit einem vergleichbar transnationalen rechtlichen und kulturellen Radius ohne schützenden Staat im Hintergrund wie die J., trotz kultureller Vielfalt und mannigfaltiger Fragmentierungen. Sie bildete sich im allgemeinen nach ein und demselben Grundmuster heraus. Die ersten Bedingungen für dauerhafte Diasporasiedlung waren ein Stück Land für einen Friedhof, eine Synagoge, ein rituelles Bad (Mikwe), eine Umgebung, die gewerbliche Beschäftigung ermöglichte und die notwendigen Lebensmittel bereitstellte, und eine Herrschaft, die Schutz gewährte. Die Synagoge bildete den Mittelpunkt jüdischen Lebens. Sie war ein multifunktionales Versammlungshaus für religiöse, rechtliche, schulische und soziale Zwecke. Um die Synagoge entstand die J.gasse, um die J.gasse das J.viertel und als Eigenheit im östlichen Europa des 19. Jh. – das Schtetl. Trotz verschiedener Traditionen und heterogener historischer Entwicklungen waren die beiden einflussreichsten Großgruppen, die Aschkenasim und die Sephardim, genauso wie die kleinen Gruppen der „Romanioten“, Karäer, „Bergjuden“ traditionell im Kern nach den selben Prinzipien und Regeln organisiert: Sie bildeten Gemeinwesen, die sog. Gemeinde (hebr. kehilla, Pl. kehillot), die einen in sich geschlossenen Kosmos mit eigener Religion, Kalenderrechnung, eigenen Sprachen und weitgehender Rechtshoheit darstellten. Sie wahrten im östlichen Europa weitaus länger als in Mittel- und Westeuropa ein hohes Maß an Stabilität und Eigenständigkeit.

Traditionell forderte die Halacha (die religiösen Vorschriften nach der Thora) Distinktion gegenüber Nichtjuden. Aber die politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten von der nichtjüdischen Umgebung und die Sorge um den Lebensunterhalt machten pragmatische Kontakte und Korrekturen der Vorschriften notwendig. Distinktion und Flexibilität gegenüber den jeweiligen sie zeitlich und räumlich umgebenden Lebens- und Wirtschaftsweisen, Mentalitäten und Kulturen spiegelt sich u. a. in der Vielsprachigkeit der J. – auch im östlichen Europa. Die Gemeinden waren Institutionen, welche die abgesondert lebenden J. in der Diaspora zu schaffen gezwungen waren, um ihre Existenz zu sichern und Gruppenbedürfnisse zu befriedigen. Sie basierten auf talmudischem Recht, das sich auf die biblischen Bundschließungen berief und darin transzendiert wurde, und auf traditionellem Recht, das in Form schriftlich fixierter Korrekturen, ›takkanot‹ (hebr.), Ort und Zeit jeweils neu angepasst wurde. Die Verfechter der kulturellen Autonomie für die J. ebenso wie die Zionisten betonen bis heute die Kontinuität der jüdischen Gemeinde von der Antike bis in die Moderne.

Im Polen-Litauen des 18. Jh. zählten die jüdischen Gemeinden nicht selten einige Tausend Mitglieder. Im Russischen Reich wuchsen sie im Laufe des 19. Jh. vielerorts auf mehrere Zehntausend an. Sie waren also komplexe Kommunen, die einer entsprechend differenzierten Verwaltung bedurften. Ihrer Größe wegen waren sie den sephardischen Gemeinden strukturell ähnlicher als den mittelalterlichen in ›Aschkenas‹ (seit dem 12. Jh. Bezeichnung für jüdische Siedlung in der Rheinregion, späterhin auch in West- und Mitteleuropa). Dies ist eine Erklärung für die Anerkennung, Adaption und dauerhafte Geltung des sephardischen Rechts bei den Aschkenasim im östlichen Europa. Seit dem letzten Drittel des 16. Jh. war das Handbuch ›Šulhan aruk‹ (hebr., „Der gedeckte Tisch“) des Joseph Karo (1488–1575) mit den Kommentaren des aschkenasischen Gelehrten Moses Isserles aus Krakau der autoritative Gesetzeskodex für sie, im Osten noch weit länger als in der Mitte und im Westen Europas. Der Kodex regelt nicht nur Kultus und religiöse Praxis, Ehe- und Familienleben, sondern ist zugleich auch ein Gesetzbuch des Zivil- und Strafrechts.

Die Gemeinde war im Grundsatz demokratisch, in der Praxis jedoch hierarchisch, patriarchalisch und oligarchisch strukturiert und hatte die primäre Funktion, nach innen wie nach außen Ordnung zu gewährleisten, Steuern zu erheben, Recht zu sprechen, Wirtschaft, Bildung, Soziales und Kultus nach innen sowie Kontakte nach außen zu regeln. Sie beruhte auf zwei Säulen – der laizistischen und der geistlichen Macht. Die laizistische Macht wurde von der Gemeindeverwaltung, ›kahal‹ (hebr., Pl. kahalim), repräsentiert und diese gewöhnlich ehrenamtlich von einem Vorsteher, dem ›parnass‹ (hebr., Pl. parnassim) oder ›roš‹ (hebr., Pl. rašim) geleitet, die man im 18. Jh. in Polen auch ›J.bürgermeister‹, ›J.meister‹ oder ›senior‹ (latein.) nannte.

Die Kahal-Vorsteher amtierten nach dem Rotationsprinzip, genossen unumschränkte Machtbefugnis und hatten weitgehende Entscheidungsfreiheit. Unter ihrer Leitung waren ›towim‹ (hebr., Pl.) oder ›boni viri‹ (latein., Pl.) – v. a. für die Verwaltung und Steuererhebung verantwortlich. Kahal-Räte organisierten die Arbeit diverser Kommissionen für Rechnungshof, Gewerbeamt, Schulwesen, Kultus, Armen- und Sozialfürsorge, Krankenwesen, Abgaben für Palästina (hebr. halukka), Zünfte. Auch ›towim‹ und Kahal-Räte waren Ehrenämter. Zusätzliche Ämter dieser Art bildeten die Richterkollegien, die Zensoren, die Vorwähler bzw. Wähler zum Kahal-Rat. Daneben gab es bezahlte Ämter: Stadtschreiber, Synagogendiener (Schammes) und verschiedene Gesundheitsämter (Ärzte, Apotheker, Hebammen). Die Kahal-Führung wurde nach einem komplizierten Verfahren indirekt gewählt. Die Kriterien für die führenden Positionen waren Besitz, Erfahrung (Alter) und Gelehrsamkeit. Passives Wahlrecht für Ämter dieser Art war den obersten Zensusgruppen vorbehalten.

Die Gemeinde kontrollierte den Einzelnen und gewährte ihm dafür Schutz und Rechtssicherheit. Das extremste Zwangsmittel zur Disziplinierung stellte ein gestuftes System der Ausgrenzung, der Bann (hebr. herem), dar. Ein grundlegendes Recht, über das die Gemeinde verfügte und Macht ausübte, war die exklusive Befugnis, Berechtigungen zur Niederlassung und zu öffentlichen und wirtschaftlichen Tätigkeiten aller Art zu vergeben (hebr. hasaka).

Die erste Instanz zur Regelung der Außenkontakte der Gemeinde war der Fürsprecher (hebr. stadlan, Pl. stadlanim). Der Träger dieses laizistischen Amtes wurde von der Gemeinde bestellt und von ihr entlohnt, so dass die Unabhängigkeit von Sonderinteressen einzelner Auftraggeber gewährleistet war. Um das Amt auszuüben, waren bestimmte Kompetenzen nötig, v. a. Sprachkenntnisse und Weltgewandtheit. Die Berufsgruppe der Großkaufleute erfüllte diese Voraussetzungen traditionell am besten und war demnach für das Amt prädestiniert. Die Gemeinden wahrten ihre Unabhängigkeit so weit, wie die sie umgebende Gesellschaft und deren Herrschaft es erlaubten. Seit dem babylonischen Exil regelte das Prinzip „das Gesetz des Königs ist Gesetz“ (aram. dina de-malkuta dina) die Rechtsbeziehungen der Gemeinde zur jeweiligen Staatsmacht. Die Anerkennung der Rechtshoheit einer nichtjüdischen Herrschafts- und Schutzinstanz in den Bereichen Steuern, Konfiskation und Strafrecht garantierte die Autonomie der Gemeinde.

Die kleinste gemeinschaftliche Einheit und die primäre Sozialisationsinstanz der Gemeinde war die Familie, die durch einen extremen Rationalismus im Eheverständnis, strikte Verteilung der Geschlechterrollen und ausgeprägte sekundäre – wirtschaftliche wie soziale – Funktionen gekennzeichnet war. Netzwerke und Parteiungen bildeten sich nicht selten auf der Grundlage verwandtschaftlicher Beziehungen. Dies führte tendenziell zu Konflikten zwischen den familiären und den institutionellen Bindungen in der Gemeinde.

Dem Wachstum und der zunehmenden Differenzierung der Gemeinschaft entsprechend, entstanden – analog zu den christlichen Zünften bzw. christlichen und muslimischen Bruderschaften – sog. hewrot (hebr., Pl.), gesellschaftliche Vereinigungen, mit wirtschaftlichen, politischen, religiösen und sozialen Funktionen. Die altehrwürdigste unter ihnen war die „Beerdigungsbruderschaft“ (hebr. hewra kadiša), die sich als ethische Elite verstand. Bruderschaften übernahmen auch die Interessenvertretung der Handwerker und repräsentierten die Mittelstände. Die Kaufleute waren hingegen nicht in Bruderschaften organisiert.

Alle Lebensbereiche der Gemeinde waren von Religion durchdrungen, gleichwohl gab es eigenständige religiöse Instanzen: das Rabbinat, den Prediger, die Synagoge. Das Rabbinat war unabhängig von der Gemeindeverwaltung und bildete die zweite Machtsäule, die geistliche Autorität in der Gemeinde. Der Rabbiner, ggf. der Leiter der Talmudakademie (Jeschiwa), der Prediger (hebr. daršan oder maggid) waren bezahlte Ämter. Auch sie hatten ausgeprägte sekundäre soziale Funktionen. Jeder ausgewiesene Gelehrte konnte den Titel ›morenu‹ (hebr., „unser Lehrer“) tragen. Rabbiner und damit ggf. auch Richter, Leiter der Jeschiwa, Prediger oder Lehrer wurde man jedoch nicht erst durch das Amt, sondern v. a. durch die Ordination (hebr. smika). Die Synagoge diente nicht allein als Bethaus, sondern auch als Kontrollinstanz, Kommunikationszentrum und Raum sozialer Stratifikation. Analog dazu hatten die Bildungsinstitutionen, Chederschule und Jeschiwa, Sozialisationsfunktionen. Die soziale Binnendifferenzierung der Gemeinde war beträchtlich, wurde allerdings durch vom nicht-jüdischen Umfeld gesetzte Reglements stark begrenzt. Entscheidende Grundlagen hierfür waren die patriarchalische Werteordnung sowie Kriterien wie Wissen, Wohlstand und politischer Einfluss, aber anders als für den Adel in der christlichen Gesellschaft waren Privilegien für J. in der Regel nicht erblich. Dies förderte in sozialer Hinsicht die Mobilität und hatte zugleich aber Unsicherheit zur Folge.

Erste Anzeichen für die Krise der Gemeinde auf dem Balkan wie in Ostmitteleuropa, waren bereits im 17. Jh. der zunehmende Einfluss der Kabbala und das Aufkommen pseudomessianischer Bewegungen. Aber die eigentlichen geschichtlichen Wendepunkte, welche zunächst die aschkenasischen Gemeinden in die Krise führten, waren der Mitte des 18. Jh. aufkommende Chassidismus und – mit Wirkung auch in den sephardischen Gemeinden – die Haskala-Bewegung seit der Wende vom 18. zum 19. Jh. Der Chassidismus anerkannte die Tradition, schuf jedoch ein neues Wertesystem, das sich v. a. durch Steigerung des religiösen Gefühls und Sublimierung messianischer Erwartungen auszeichnete. Er entwickelte sich zu einer Volksbewegung, welche die Gemeinde spaltete und die Familie schwächte. Aber erst unter dem Einfluss der Haskala-Bewegung nahm die Tendenz zur Selbstauflösung bzw. Demokratisierung der Gemeinde schärfere Formen an, denn die jüdischen Aufklärer (hebr. Pl. Maskilim) übernahmen von den westeuropäischen das Ideal der neutralen Gesellschaft und entwickelten ein neues Politikverständnis. Die Forderung nach Bürgerrechten bewirkte eine Revision des traditionellen Rechtsprinzips (dina de-malkuta dina). Auch erklärten sie ihre Bereitschaft, partikulare Traditionen und damit auch die überkommene Selbstverwaltung in der Gemeinde wie die Einheit von Religion und Politik aufzugeben und sich unter das allgemeine Staatsgesetz zu stellen. Diese Bestrebungen spalteten die J. im östlichen wie im westlichen Europa. An die Stelle des Quietismus der Gemeindeverwaltung traten gesellschaftliches Engagement und Staatsloyalität. Das Zusammenspiel von aufgeklärter Reform- und staatlicher Integrationspolitik begann nun die Gemeinde zu zersetzen und die klaren Trennlinien zwischen jüdischer und nichtjüdischer Welt aufzulösen.

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4 Die Rechtsstellung der Juden im historischen Prozess

Obgleich sich in Europa bereits in der Antike ein einheitlicher Nukleus grundlegender Bestimmungen für die jüdische Diaspora herausgebildet hatte und die Geschichte, v. a. im Prozess der Moderne, überall in Europa dieselbe Richtung nahm, entwickelten sich die rechtlichen Bedingungen für jüdisches Leben im Osten Europas anders als im Westen.

Das den J. im Römischen Reich gewährte Recht auf Selbstverwaltung war an Byzanz und von dort ans Osmanische Reich übergegangen. Dort wurde ihnen als ethnokonfessionelle Gemeinschaft, die den Islam anerkannte und dafür nach dem Koran zu schützen war – den verschiedenen christlichen Gruppen entsprechend – unter der Bezeichnung ›millet‹ (osman.-türk., „Religionsgemeinschaft“) eine weitgehende Unabhängigkeit gewährt um den Preis des Verbots, Waffen zu tragen und Boden zu erwerben, des weitgehenden Verzichts auf sozialen Aufstieg in der osmanischen Verwaltung und mit der Verpflichtung zur Steuerzahlung. Bis zum Untergang des Osmanischen Reiches waren die überwiegend von „Romanioten“ und Sephardim gebildeten Gemeinden einheitlich nach diesem Prinzip, aber keinesfalls zentral organisiert. Sie genossen auch im Verhältnis zueinander weitgehende Unabhängigkeit, zeichneten sich dementsprechend, den jeweiligen historischen Prägungen sowie spezifischen regionalen inneren wie äußeren Faktoren Rechnung tragend, durch Heterogenität in Verwaltungs- und Machtstrukturen aus. Die Reichweite der Staatsmacht variierte im Laufe der Zeit, gleichwohl waren die jüdischen Gemeinden in Südosteuropa Teil der allgemein geltenden Sozialverfassung des Osmanischen Reiches.

Hingegen wurden den aschkenasischen Gemeinden in den ostmitteleuropäischen Adelsstaaten Polen, Litauen, Böhmen und Ungarn seit den Kreuzzügen (11.–13. Jh.) die Existenzbedingungen von den jeweiligen Machthabern diktiert. Dem mittelalterlichen Prinzip der Ständegesellschaft entsprechend, unterstellten die Herrscher der Adelsstaaten die J. – nach dem Vorbild Kaiser Friedrich II. (1244) im Alten Reich – als Sondergruppe, ›servi camerae‹ (latein., „Kammerknechte“), ihrem besonderen Schutz (Béla IV: 1251, Otakar II: 1254, Bolesław „der Fromme“: 1264, Vytautas: 1388).

Das Schutzverhältnis wurde rechtlich durch Privilegien abgesichert und im Laufe der Geschichte auf regionale Herrschaften übertragen, so dass auch der Adel über das sog. J.regal verfügen, Privilegien und späterhin Schutzbriefe ausstellen konnte. Auf diese Weise wurde das „J.recht“ ausgedehnt und territorialisiert. Nach diesem Prinzip waren allerdings nicht die Gemeinden Rechtssubjekte, sondern die J., definiert als Sondergruppe. Sie gerieten damit in Abhängigkeit von der Willkür einzelner, regional mehr oder weniger begrenzter Machthaber. Die Konsequenz der Orientierung am westlichen Vorbild hatte ähnliche Folgen. Hier wie dort kam es zu wiederkehrenden Vertreibungen als gewaltsamem Mittel herrschaftlicher Schuldentilgung (Ungarn: 1360, 1367; Böhmen: 1336, 1389; Litauen: 1495).

Mit dem Erstarken der Städte im Zuge der Ostsiedlungen entstand seit Ende des 15. Jh. – wie im Westen Europas, nur etwa ein Jahrhundert später – eine Konkurrenz zwischen J. als urbaner ethnokonfessioneller Sondergruppe und der christlichen Bevölkerung, in den Anfängen überwiegend deutschen Kaufleuten und Handwerkern, die – wie die J. – als Siedler aus dem Westen ins östliche Europa gelangt waren. In den Städten lebten Christen und J. als Nachbarn. Sie verständigten sich jiddisch/deutsch leichter miteinander als mit den slawischen Nachbarn und unterhielten berufliche Verbindungen.

Die Gemeinden der Aschkenasim hatten Elemente des Gewohnheitsrechts aus dem deutschen Stadtrecht übernommen – in den polnisch-litauischen Städten v. a. aus dem Magdeburger Recht –, das die Aschkenasim kannten, vielleicht sogar mitgeprägt haben. Jedenfalls weisen Organisationsformen wie Ämterbezeichnungen der jüdischen Gemeinde und des deutschen Stadtrechts Ähnlichkeiten auf. Wie im Westen wohnten die J. im östlichen Europa zwar innerhalb der Mauern der nach deutschem Stadtrecht regierten Städte, waren aber von deren Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und verwalteten sich selbst (›kehilla‹). In den westlichen Regionen Ostmitteleuropas, wo die christliche Bevölkerung numerisch und an Wirtschaftskraft überwog, kam es – ebenfalls wie im Westen – zu Versuchen der Ausweisung bzw. zeitweiligen Vertreibungen der J. aus den Städten und Gettos (Warschau 1483; Krakau 1495; Pilsen 1504; Budweis 1505/6; Prag 1507, 1542).

Das Phänomen der Konkurrenz zwischen jüdischer und nichtjüdischer Stadtbevölkerung und der Vertreibungen war nicht auf Ostmitteleuropa beschränkt, sondern vereinzelt auch auf dem Balkan zu beobachten (Ragusa [heute kroat. Dubrovnik] 1515). Anders als im Osmanischen Reich waren die jüdischen Gemeinden in den ostmitteleuropäischen Adelsstaaten jedoch seit der Frühen Neuzeit auf Länderebene miteinander verbunden und zentral organisiert. Das prominenteste Beispiel für eine solche von Jacob Katz als ›Supra-kehilla‹ bezeichnete Organisationseinheit ist der sog. Vierländersejm in Polen und Litauen (gebildet aus den vier Regionen Groß- und Kleinpolen, Rotrussland [poln. Ruś czerwona] und Litauen seit 1581 bis 1764).

Die zentrale Organisation entsprach der ständischen Ordnung und dem Rationalitätsprinzip der Zeit. (Die häufig erörterte Frage nach ihrem Ursprung – ob sie traditionell jüdisch oder aber von außen auferlegt worden war – ist deshalb unerheblich.) Die Supra-Gemeinde diente der Steuereintreibung, der Interessenvertretung nach außen wie der überregionalen Verwaltung, Rechtsprechung und Kontrolle nach innen. Die Einschränkungen die die Einzelgemeinde dadurch erfuhr, wurden durch ihr Mitspracherecht in übergemeindlichen Angelegenheiten aufgewogen. Die im Laufe der Zeit und nach Osten hin zunehmende numerische Stärke der J. in Ostmitteleuropa verhinderte die Vereinzelung der J. als Mitglieder einer Sondergruppe sowie die mehrfache Fragmentierung der Rechtshoheit über die J., wie sie im Zuge der allmählichen Auflösung der standesgesellschaftlichen zentralen Reichsordnung in den deutschen Territorialstaaten zu beobachten war. Dieselben Faktoren verzögerten gleichwohl Prozesse der Individualisierung und Differenzierung innerhalb der jüdischen Gesellschaft und wirkten bestanderhaltend und machtverstärkend auf die traditionelle Gemeinde als verbindlicher Sozialordnung, Konfessions- und Wertegemeinschaft bis zur Eroberung der ostmitteleuropäischen Adelsstaaten durch das Habsburgische, Preußische und Russische Imperium und noch darüber hinaus.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinden in den östlichen Provinzen Preußens, der Habsburgermonarchie wie in den Westprovinzen des Russischen Reiches wurde bestimmt von den gegen einander konkurrierenden Expansionen dieser Großmächte. Denn die J. siedelten v. a. in den Grenzgebieten. Diese bildeten innere Peripherien, wo die staatlichen Verwaltungsinstanzen nicht zuletzt grenzkontrollierende Funktion ausübten. Den Expansionen von Westen wie von Osten stellten sich im östlichen Europa keine natürlichen Hindernisse in den Weg. Aber im Unterschied zu klassischen Kolonien waren die Provinzen Posen, Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen, die Kronländer Böhmen, Mähren, Galizien, Bukowina, Polen-Litauen, Kongresspolen, Kur- und Livland sowie Bessarabien relativ dicht besiedelte Gebiete mit urbaner Kultur, ethnischer, konfessioneller und rechtlicher Gemengelage und einer entsprechend komplexen Geschichte. Überall dort gehörte die „Frontier-Funktion“ längst der Vergangenheit an.

Im ostmitteleuropäischen Zwischen- und Grenzland hatten deutsche „Ostsiedlung“ und jüdische Kolonisation die Regionen nachhaltig geprägt, einerseits die ethnokonfessionelle Vielfalt vermehrt und andererseits durch Einführung und Verbreitung des Erbpacht- und deutschen Stadtrechts zugleich eine gewisse rechtliche, gesellschaftliche und ökonomische Vereinheitlichung und eine Angleichung an die vormoderne deutsche Akkulturation befördert. Dort begegneten sich und konkurrierten die Kulturen, überschnitten sich die konfessionellen und politischen Einflusssphären. Über die Jahrhunderte war das Zwischenland den Hegemonieansprüchen der verschiedenen Seiten mit wechselnden Allianzen ausgesetzt. Die besondere sozio- und ethnodemographische Strukturierung der Regionen im Hoch- und Spätmittelalter sollte lange, bis in die Neuzeit, nachwirken und für die moderne Konfessions- und Nationsbildung, auch für die Gemeinschaftsbildungen der J., Folgen haben.

Die mit der Expansionspolitik der Großmächte verbundene Auflösung bzw. Änderung der Herrschaftsverhältnisse stellte für die J. keine grundsätzliche neue Erfahrung dar, weil sie – im Unterschied zu den Böhmen, Ungarn, Polen, Litauern, die damit ihre Eigenstaatlichkeit verloren – seit der Antike eine historisch erprobte Diaspora waren, die unter dem Schutz imperialer Mächte nicht die schlechtesten Existenzbedingungen hatte. In der Regel kooperierten die Okkupationsmächte mit den Eliten der Okkupierten, nutzten deren Ansehen und Erfahrung zur Verwaltung und Zivilisierung des Landes. Dabei erhielten die J. eine besondere Funktion. Der Übergang der aschkenasischen Gemeinden unter die Herrschaften Habsburgs, Preußens und Russlands fiel mit dem Beginn der Moderne im östlichen Europa zusammen, der neue Formen der Herrschaft und Verwaltung notwendig machte. Zentrale Bedingung für Modernisierung war die Homogenisierung der Gesellschaft. Diese hatte insbesondere für diejenigen Minderheiten radikale Folgen, die auf urbane, gewerbliche Berufe spezialisiert und konzentriert waren. Angesichts zunehmender Mobilität und beruflichen Wandels konnten Monopole auf bestimmte Tätigkeiten nicht mehr einzelnen Gruppen vorbehalten bleiben. Dabei konfligierten ökonomische mit politischen Staatsinteressen. Industrialisierung zwang zu Mobilität und Homogenisierung der Gesellschaft, hingegen Herrschaftssicherung v. a. an den Peripherien zum Rückgriff auf alte Separierungen nach Sondergruppen. Die Regierungen wollten sich insbesondere im Grenzland gegen die freiheitlichen und nationalen Bewegungen schützen, deren Einflüsse sich im Eroberungskrieg Napoleons (ca. 1800–15) wie in den Aufständen der Polen (1830/31, 1848, 1863/64) bereits bemerkbar gemacht hatten.

Bei der Neugestaltung der Verwaltung des Grenzlands wurde den J. eine Rolle mit doppelter Funktion zugewiesen. Sie sollten in den Grenzregionen die Träger des wirtschaftlichen Fortschritts und zugleich staatstreue Untertanen sein. Damit wurde nicht zuletzt dem Umstand Rechnung getragen, dass die exklusiv spezialisierte und ausgegrenzte Pariagruppe der J. im Grenzland ohnehin die Mehrheit der städtischen Mittelstände bildete. Auch gelang es ihr aufgrund ihrer urbanen Lebens- und Wirtschaftsweise, höherer Bildung und Schriftreligion tendenziell erfolgreicher auf die Anforderungen der neuen Zeit zu reagieren als der alten herrschenden Adelsschicht, dem Bauernstand oder den noch jungen mittleren Ständen der christlichen Gesellschaft.

Neu und hierin auf die erstarkenden Nationalbewegungen reagierend war die Forderung nach kultureller Angleichung an die Hegemonialnation im Namen eines „offiziellen Nationalismus“. Dementsprechend betrieben die Regierenden insbesondere an der Peripherie eine forcierte Politik der Integration und Akkulturation, unter den J. als historischer Sondergruppe früher und effektiver als unter den ehemals eigenstaatlichen Gruppen – den Böhmen, Ungarn, Polen, Litauern und den Deutschbalten – und den vorwiegend agrarischen Bevölkerungen der Ukrainer, Weißrussen, Letten, Esten oder der russischen Altgläubigen –, um sie zu Staatsloyalität und Patriotismus zu erziehen und für die Rolle von neutralen Untertanen im unruhigen Grenzland zu qualifizieren.

Integration und Akkulturation sollten in erster Linie durch Bildungs- und Verwaltungsreformen gewährleistet werden, die sich, je nach Sozialverfassung, unterschiedlich gestalteten. Die Habsburgermonarchie und die preußische Regierung unterstützten die jüdische Aufklärungsbewegung, förderten und lenkten auf diese Weise Bildungsreformen für J. und honorierten Akkulturation mit der Verleihung von Bürgerrechten. Integration fand in erster Linie durch Emanzipation und wirtschaftliche Anreize statt. Im Unterschied dazu machte die zarische Regierung die Bildungsreform für J. zu einer Staatsangelegenheit, verordnete Akkulturation, überließ es den J., sie durchzusetzen, und gewährte Privilegien als Gegenleistung. Eine Ausnahme im Russischen Reich bildete die urbane Enklave und Hafenstadt Odessa, wo J. das Gemeinwesen mitgestalteten, wobei politische und ökonomische Partizipation Hand in Hand gingen. Sowohl in der Habsburgermonarchie, in Preußen wie im Russischen Reich übernahmen Großkaufleute, die in einer Person zugleich als Hofjuden, im Russischen Reich auch als Unternehmer und Pächter im Staatsauftrag, und als ›stadlanim‹ fungierten, tragende Rollen in der Integrations- bzw. Akkulturationspolitik.

Eine entscheidende Maßnahme zur Integration war die Auflösung der traditionellen Selbstverwaltungen der Gemeinden. In den an die Habsburgermonarchie und an Preußen gefallenen Gebieten wurden die Gemeindeselbstverwaltungen nach den Teilungen Polen-Litauens offiziell abgeschafft, etwas später (1821) in Kongresspolen. Überall dort, wo die Emanzipation formalrechtlich vollzogen wurde – d. h. in Preußen mit der Verfassung von 1850 bzw. dem ›Gesetz des Norddeutschen Bundes‹ von 1869, in Kongresspolen durch den Erlass über die “rechtliche Gleichstellung“ der J. 1862 und in der Habsburgermonarchie mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 – war die Gemeinde ihrer politischen und Verwaltungsfunktion sowie ihrer zivilen Rechtshoheit offiziell enthoben und damit der Transformation in eine nur mehr Konfessionsgemeinschaft der Weg geebnet. Im Russischen Reich hingegen bestanden die Gemeindeselbstverwaltungen mit gewissen Einschränkungen offiziell bis Mitte des 19. Jh. fort, in Kurland darüber hinaus, de facto behielt die Gemeinde bis zur Russischen Revolution grundlegende Verwaltungsfunktionen (Solidargemeinschaft zur Steuererhebung und Militärrekrutierung) und bis zu einem gewissen Grad auch Rechtshoheit (Schiedsgericht für alle innerjüdischen Belange, Ehe- und Familienrecht).

Abgesehen von dieser Besonderheit bedingten und erforderten die Größe, Dichte, spezifische Sozialstruktur und Organisation jüdischer Siedlungen genauso wie die lange Dauer vormoderner Lebens- und Wirtschaftsformen insbesondere im westlichen Grenzland des Russischen Reiches den J. gegenüber andere Formen der Integrations- und Akkulturationspolitik als in Mittel- und Westeuropa. Um effektiv zu sein, musste sie auf das Kollektiv zielen, nicht auf das Individuum. Das Kollektiv der sich selbst verwaltenden Gemeinde war die autoritative Einheit und Größe – für die J. wie für die Regierung. Sie war eine bewährte Solidargemeinschaft und repräsentierte für den Staat das Rechtssubjekt. Insofern bestand im Russischen Reich die Dialektik von Exklusivität und Exklusion der J. fort, gekennzeichnet durch konfessionelle Differenz sowie die besondere siedlungs-, standes- und verwaltungsrechtliche Zuordnung. Gleichwohl blieben – trotz der Staatsgrenzen, trotz der Unterschiede in der staatlichen Integrations- und Akkulturationspolitik und in den formalrechtlichen Bestimmungen – die Übergänge fließend, koexistierten insbesondere in Ostmitteleuropa bis ins 20. Jh. hinein ganz heterogene, je nachdem mehr oder weniger traditionelle oder moderne Formen jüdischer Gemeinschaftlichkeit und kollektiven Selbstverständnisses. Bspw. entzog sich in Polen die jüdische Bevölkerung der Metropolen Warschau und Łódź sowie der Provinzzentren (Lublin, Radom) der Kontrolle durch die Gemeinden, während diese in abgelegenen Gebieten ihre traditionelle Autorität weitgehend geltend machen konnten.

Ganz anders verlief der Prozess der Moderne der sephardischen Gemeinden Südosteuropas unter osmanischer Herrschaft, wo sich die Regierung statt der Homogenisierungspolitik eines „offiziellen Nationalismus“ auch noch im 19. Jh. der Selbstverwaltung nicht-muslimischer ethnokonfessioneller Gemeinden in der modernisierten Form des Millet-Systems bediente. Da Aufklärung und in deren Folge die Haskala-Bewegung originär west- bzw. mitteleuropäische Phänomene waren, erreichten sie die überwiegend sephardischen Gemeinden nur über Umwege und mit Verzögerungen. Gleichwohl hatten die Sephardim – anders als die Aschkenasim – in Gestalt der rationalen Religionsphilosophie sowie der jüdisch-arabischen Gelehrsamkeit des Mittelalters eine Vorschule der Aufklärung durchlaufen und dazu in der Folge von Inquisition, erzwungener Konversion bzw. Migration interreligiöse und interkulturelle Erfahrungen gesammelt und in ein frühmodernes Selbstverständnis umgesetzt. Ähnlich wie die Hofjuden in Ostmittel- und Osteuropa spielten die „Hafenjuden“ für den Prozess der Moderne in den sephardischen Gemeinden Südosteuropas eine zentrale Rolle. So wurden v. a. in den Großstadtgemeinden (Saloniki u. a.) die Ideen der Aufklärung bzw. der Haskala-Bewegung seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. rezipiert, adaptiert und in moderne bzw. nationale Bestrebungen innerhalb der urbanen Kommunalpolitik transformiert.

Aufgrund ihrer langen Zivilisationstradition erschienen J. allerorts als potentielle Träger und Nutznießer der Modernisierung. Sie wurden damit zum Feindbild par excellence für Nationalisten wie für die Autokratie. Als die russische Regierung im Zeichen des „offiziellen Nationalismus“ antisemitische Politik protektionierte, zerbrach die Allianz zwischen Regierungsreformern und jüdischen Aufklärern. Antijüdische Stereotype vom „Fremden“, vom „Christusmörder“ und „Ausbeuter“, vom jüdischen „Staat im Staate“ wurden Bestandteil kollektiver Identität nichtjüdischer Nationalisten, im östlichen wie im westlichen Europa. Umgekehrt bewirkten die Zurückweisungen in den neuen jüdischen Eliten – ähnlich wie in der russischen oder polnischen Intelligenzija – eine Radikalisierung, die Konstituierung einer eigenen Nationalbewegung mit einer komplizierten Fraktionierung in Liberale und Revolutionäre, „Jiddischisten“ und Zionisten. Es entstanden neue Formen jüdischer Gemeinschaftlichkeit, die gleichwohl überkommene Funktionen übernahmen – Selbstwehrgruppen, Hilfsorganisationen, Interessenverbände, Vereine, Parteien. Die restriktive Politik der beiden letzten Zaren und antijüdische Stimmungen in der christlichen Bevölkerung, die sich, aufgehetzt durch chauvinistische Propaganda, in Unruhezeiten immer wieder in Pogromen Ausdruck verschaffte (1881/82, 1903–05), verhinderten eine umfassende Akkulturation genauso, wie die Fraktionierungen der jüdischen Elite eine einheitliche Interessenvertretung der J. unmöglich machte.

Neben dem Ringen um Bürgerrechte, Modernisierung und gesellschaftliche Selbstbehauptung bestimmten seit den Pogromen 1881 und bis zum Ersten Weltkrieg und Revolution (1917) Segregation und Emigration die Geschichte der J. im Russischen Reich und ebenso in Kongresspolen und Rumänien. Für beides übernahmen jüdische Solidargemeinschaften wichtige Funktionen. Der Sieg des Nationalstaats nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Imperien war für die J. im östlichen Europa vom Kampf um die internationale Anerkennung als Nation gekennzeichnet. Er brachte ihnen letztendlich die Akzeptanz als Minderheit, hingegen der Sieg der Revolution in Russland die Festschreibung als „Nationalität“. Im Grundsatz verschieden, ging beides letztendlich doch in dieselbe Richtung und verstärkte langfristig die Segregation wie die althergebrachte jüdische Gemeinschaftlichkeit (in neuen Formen).

In den jungen Nationalstaaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn) war der Status der J. zwar formalrechtlich durch die Minderheitenschutzverträge bestimmt. Die Verträge billigten ihnen – nach dem Vorbild des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 – offiziell sowohl bürgerliche als auch „nationale“ Rechte zu. Aber das Zusammenwirken verschiedener Faktoren – die Schwäche der Republiken, deren „Rückständigkeit“ in Wirtschaft und Gesellschaft, dazu die lange Dauer alter hegemonialer (deutscher, russischer, ungarischer) Akkulturationen – führte verstärkt v. a. nach Abschluss der Nationalstaatsbildung in den 1930er Jahren ganz überwiegend zur Missachtung des international verfügten Rechts von Seiten der Staaten und Hegemonialnationen und auf Seiten der jüdischen Minderheiten zur Behauptung der partikularen Gemeinschaft und ihrer Rechte. Der einzige Staat, der den gesetzlich formulierten Verpflichtungen dauerhaft nachkam, war die Tschechoslowakei.

Unter diesem Vorzeichen entwickelten sich v. a. Polen und Rumänien zu Zentren des Antisemitismus einerseits, der jüdischen Nationalbewegungen und einer modernen jiddischen Kultur andererseits, gleichzeitig waren mehr oder weniger alle ostmitteleuropäischen Länder, insbesondere aber Litauen und Lettland, vom „Kulturkampf“ zwischen den verschiedenen Fraktionen, den Zionisten, den „Bundisten“, den „Folkisten“ und den Revolutionären, gekennzeichnet, während in Ungarn die Konkurrenz zwischen Neologen und Orthodoxen bestimmend war. Allerorts transformierte und differenzierte sich die traditionelle Gemeinde in moderne Formen jüdischer Gemeinschaftlichkeit, die – nach dem Prinzip der Konfessionsgemeinde – auf dem Bekenntnis, d. h. der Freiwilligkeit basierte.

Nebeneinander existierten die orthodoxe, konservative, liberale oder reformorientierte Synagogengemeinde, die zionistische, „jiddischistische“ oder akkulturierte Kulturgemeinschaft sowie die diversen, nun legal agierenden jüdischen Parteien (z. B. Bund, Poalei Zion [hebr., „Arbeiter Zions“], Zeirei Zion [hebr., „Junge Zions“], Mizrahi [hebr. Akronym von ›merkaz ruhani‹, „Geistiges Zentrum“], Agudas Israel [hebr., „Bund Israels“], Folkspartei). Allerorts nahmen J. auch an internationalen Bewegungen zur Überwindung des Nationalprinzips teil und traten für transnationale Rechte ein, bis der moderne, rassistisch begründete Antisemitismus des Nationalsozialismus mit seiner totalitären Definitionsmacht und barbarischen Dissimilationspolitik dem ein Ende setzte. Er konterkarierte das Prinzip der freiwilligen Zugehörigkeit und zwang die J. erneut zur Not- und „Schicksalsgemeinschaft“ zusammen.

In Russland beteiligten sich viele J. an der Revolution – in der Hoffnung auf Emanzipation oder aber in messianistischer Erwartung einer grundlegenden Umwälzung in Richtung übernationale und klassenlose neutrale Gesellschaft. Doch der Bolschewismus brandmarkte die J. als „bourgeoise Nation“ und Religion überhaupt als „Opium des Volkes“ (Karl Marx). Er zwang die jüdischen Eliten zur Emigration und zog J. aus dem ehemaligen Ansiedlungsrayon in die Metropolen. Am Aufbau der Sowjetgesellschaft nahmen nur diejenigen J. aktiv und erfolgreich teil, die ihre Herkunft verleugneten. Gleichwohl billigte man den J. wie anderen Ethnien nationale Rechte zu. Die Errichtung des „Autonomen Jüdischen Gebietes“ im fernöstlichen Birobidžan seit dem Ende der 1920er Jahre entsprach der sowjetischen Nationalitätenpolitik, erwies sich allerdings angesichts natürlicher wie politischer Hindernisse als Zerrbild der Erwartungen. Infolge der Unwirtlichkeit des Gebietes blieb der Anteil der J. an der Gesamtbevölkerung unter 20 %. Die Führungskräfte Birobidžans wurden im Zuge der großen Säuberungen verfolgt und ermordet. Seit den 1930er Jahren wurden J. durch eine zunehmend nationalrussisch orientierte totalitäre Staatspolitik, die in der späten Stalinzeit in antisemitischen Verfolgungskampagnen (gegen Ärzte, jiddische Schriftsteller, „Kosmopoliten“) gipfelte, auf ihre besondere Herkunft zurückverwiesen und ausgegrenzt.

Die pro-arabische Staatspolitik seit der Suezkrise (1956) führte zum Antizionismus, einer neuen Spielart des Antisemitismus, und die Option für die jüdische Identität provozierte Diskriminierung („Punkt 5“ in Personalfragebögen). Dennoch akkulturierten sich die J. als Bildungsbürger. Konzentriert in den Metropolen, konstituierten sie einen Teil der Mittelschicht in Bereichen fern der Staatsideologie und eine Solidargemeinschaft gegen den Antisemitismus. Die Erfahrung eines starken Staates Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 erneuerte ihr Selbstbewusstsein. Seit den 1970er Jahren wurde nicht zuletzt die Emigration zu einem Mittel der Opposition.

Eine besondere Rolle behielten die im Zweiten Weltkrieg annektierten Gebiete (Baltikum, Westukraine, Nordbukowina, Bessarabien). Nach dem nationalsozialistischen Massenmord an den J. stellten Zuwanderer aus dem Innern der Sowjetunion dort zwar die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, aber diejenigen, die die Verfolgungen überlebt hatten und nicht ausgewandert waren, wussten Eigenheiten zu wahren. Ihnen war – im Unterschied zu den russischen J. – der Minderheitenstatus der Zwischenkriegszeit noch gegenwärtig. Innerhalb der zentripetalen Strukturen des Sowjetimperiums wurde die baltische Peripherie zum Ausgangspunkt der Emigration (Litauen), Zentrum sowjetjüdischer Kultur (Wilna) wie des jüdischen Samisdat (Riga) und Zuflucht für Studenten und Wissenschaftler jüdischer Herkunft (Tartu). Michail Gorbatschows Politik der Perestroika gab auch den sowjetischen J. die Möglichkeit, ihre Kulturtraditionen neu zu beleben. Ein weitverzweigtes Netzwerk jüdischer Gesellschaften und Zeitschriften entstand. Gleichzeitig begann Ende der 1980er Jahre eine verstärkte Emigration, v. a. nach Israel, in die USA und nach Deutschland.

Die J. in den ostmittel- und südosteuropäischen Ländern des sozialistischen Staatenbunds nach Holocaust und Stalinismus waren im Prinzip denselben Regeln und Restriktionen unterworfen wie die J. in der Sowjetunion. Auch sie erlebten die Perestroika und danach den Zerfall des Imperiums als Befreiung. Die Gemeinden, die – mit Ausnahme von Ungarn – auf Landesebene in der Regel nicht mehr als einigen Tausend Mitglieder zählen, beleben sich, neue Gemeinden und Kulturvereine entstehen. Großstadtgemeinden, allen voran in Budapest, die als einzige fast ungebrochen an alte Traditionen anknüpfte, aber auch in Warschau, Krakau, Prag entwickeln sich erneut zu Zentren jüdischen Lebens. Zugleich beginnen verschiedene Staaten (Polen, Tschechien, Ungarn), Geschichte und Kultur der J. in das kulturelle Gedächtnis aufzunehmen. Eine ähnliche Entwicklung ist in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu beobachten, wo nach wie vor der größte Teil der osteuropäischen J. lebt. Aber in allen Länder bleibt der jüdische Bevölkerungsanteil unter einem Prozent.


Land Gesamtbevölkerung Jüdische Bevölkerung Prozentual
Albanien 3.401.000 10 0,00 %
Armenien 3.638.000 110 0,00 %
Aserbaidschan 7.595.000 20.000 0,26 %
Bosnien und Herzegowina 3.628.000 500 0,01 %
Bulgarien 8.468.000 3000 0,04 %
Estland 1.471.000 2500 0,17 %
Georgien 5.450.000 13.000 0,24 %
Griechenland 10.490.000 5000 0,05 %
Kroatien 4.504.000 2000 0,04 %
Lettland 2.504.000 15.000 0,60 %
Litauen 3.728.000 6000 0,16 %
Makedonien 2.000.000 100 0,01 %
Moldau 4.450.000 18.000 0,40 %
Polen 39.000.000 8000 0,02 %
Rumänien 22.650.000 14.000 0,06 %
Russland 148.126.000 450.000 0,30 %
Serbien und Montenegro 10.295.000 2500 0,02 %
Slowakei 5.350.000 6000 0,11 %
Slowenien 1.942.000 75 0,00 %
Tschechien 10.251.000 5000 0,05 %
Türkei 61.797.000 20.000 0,03 %
Ukraine 51.608.000 310.000 0,60 %
Ungarn 10.050.000 70.000 0,70 %
Weißrussland 10.350.000 45.000 0,43 %
Zypern 756,000 20 0,00 %

Quelle: World Jewish Congress (ohne Angabe des Bezugsjahres), http://www.worldjewishcongress.org [Stand 31.3.2006].


Überall im östlichen Europa werden diese Initiativen von internationalen jüdischen Organisationen und privaten Stiftungen im Wettbewerb miteinander unterstützt, Infrastrukturen geschaffen und Netzwerke aufgebaut (American Jewish Joint Distribution Committee, ORT [russ. Obščestvo rasprostranenija remeslennogo i zemledelʹčeskogo truda sredi Evreev, „Gesellschaft zur Verbreitung handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit unter den Juden“], Habad, Ronald S. Lauder Foundation, Soros Foundations Network, Leonid Nevzlin Education Fund, Open Russia Foundation). Während die Großstadtgemeinden sich zu Kulturzentren entwickeln, übernehmen Gemeinden und Vereine in ländlichen Regionen wie in der Westukraine v. a. die Funktion von Sozialstationen für Alte und Kranke.

Holocaustforschung setzte zunächst in den EU-Beitrittsländern ein (Polen, Tschechien, Baltische Länder, Rumänien), aber auch in der Ukraine, in Weißrussland und Russland. In Weißrussland wird die Öffnung allerdings durch das autoritäre Regime, das das Land in die Isolation treibt, gebremst. In den Balkanländern verzögerte der Krieg 1991–99 entsprechende Entwicklungen. In verschiedenen Ländern des östlichen Europa wurden mittlerweile akademische Einrichtungen geschaffen oder reformiert, die sich mit Geschichte, Religion und Kultur der J. befassen: das „Jüdische Historische Institut“ in Warschau (poln. Żydowski Instytut Historyczny), das „Landesrabbinerseminar-Jüdische Universität“ in Budapest (Országos Rabbiképzö-Zsidó Egyetem), Universitäten und Forschungsinstitute auf Stiftungsbasis (Kiew, Budapest, Wilna, Moskau) und die Institute für Jüdische Studien verschiedener Fachrichtungen an den Landesuniversitäten. Überall in den Ländern des östlichen Europa erneuern und differenzieren sich demnach Leben und Kultur der J., allerdings sind sie weiterhin durch Überalterung, Armut, Abwanderung und Antisemitismus bedroht.

Anfang

Benbassa E., Rodrigue A. 2000: Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th-20th Centuries. Berkeley. Dubnow S. M. 1916-20: History of the Jews in Russia and Poland from the Earliest Times until Present Day. 3 Bde. Philadelphia/Pennsylvania. Eisenbach A. 1991: The Emancipation of the Jews in Poland, 1780-1870. Oxford. Gitelman Z. 1988: A Century of Ambivalence. The Jews of Russia and the Soviet Union, 1881 to the Present. New York. Haumann H. 1998: Geschichte der Ostjuden. München. Iggers W. (Hg.) 1992: The Jews of Bohemia and Moravia: a Historical Reader. Detroit. Karady V. 1999: Gewalterfahrung und Utopie: Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt/M. Katz J. 2002: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München. Klier J. D. 1986: Russia Gathers her Jews: The Origins of the "Jewish Question" in Russia, 1772-1825. DeKalb/Illinois. Mendelsohn E. 1983: Jews of East Central Europe between the World Wars. Bloomington.

(Verena Dohrn)


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