Kerbschrift

Kerbschrift (Runen- und Kerbschriften)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

Runen und Kerbschriften haben einige charakteristische Eigenheiten gemeinsam. Die Zeichenformen zeigen eine markante Tendenz zur Eckigkeit und Geradlinigkeit. Die eckige Ausformung der Buchstaben bei den Runen steht in direkter Beziehung zur Verwendung dieser Schrift auf Materialien wie Holz, Knochen, Stein und Metall. Inschriften wurden in Holz geschnitten, in Stein gehauen und in Metall geritzt. Die gleichen Schriftträger sind auch typisch für Kerbschriften, die ihren Namen von der Technik des Einkerbens einzelner Buchstaben haben.

In Osteuropa wurden Runen- und Kerbschriften in verschiedenen Kulturmilieus verwendet, von denen zwei in einer kulturhistorischen Abfolge zueinander stehen. Die ältesten Zeugnisse des Gebrauchs der skandinavischen Runenschrift stammen aus einer Periode von der Spätantike bis zum Frühmittelalter. Ins Frühmittelalter sind Funde in Varianten einer awarischen und einer donaubulgarischen Kerbschrift anzusetzen, und die von den Ungarn verwendete Kerbschrift war bis ins hohe Mittelalter in Gebrauch. Für die awarische und die ungarische Kerbschriftvarianten hat man berechtigterweise nach einem Zusammenhang gesucht. Die Tradition der skandinavischen Runen dagegen ist gänzlich unabhängig von den in Ungarn verwendeten Kerbschriften.

2 Skandinavische Runen

Skandinavische Runen in Osteuropa Die skandinavischen oder germanischen Runen sind eine eigenständige Schöpfung, deren Entstehungsperiode das 1. Jh. und deren Entstehungsregion das südliche Dänemark ist. Vorbild der Runen war das lateinische Alphabet. In den Zeichenformen der Runen sind aber auch Einflüsse norditalischer („rhätischer“) Alphabete etruskischer Prägung zu erkennen.

Die Runenschrift hat sich nicht nur in Nordeuropa verbreitet, sondern ihre Kenntnis ist auch nach Osteuropa gelangt. Die ältesten Schriftzeugnisse des Gotischen beispielsweise sind Runeninschriften, die vor der Schaffung der westgotischen Schrift im 4. Jh. entstanden sind. Dabei handelt es sich um spärliche inschriftliche Belege, die teilweise nur fragmentarisch erhalten sind. Dazu gehören zwei Runeninschriften auf Metall, u. zw. auf einer Lanzenspitze aus dem 3. Jh. (gefunden in Wolynien im Südwesten der Ukraine) und auf einem Goldring aus dem 4. Jh. (gefunden in der Walachei im Südosten Rumäniens). Außerdem gibt es noch einige auf Keramik geritzte Inschriften aus Rumänien, deren Lesung und Datierung allerdings umstritten sind.

Aus späterer Zeit stammen verstreute Runeninschriften auf Gedenksteinen im Tal des Dnjepr. Diese über Kiew führende Wasserstrasse war im Mittelalter die führende Handelroute der Waräger nach Byzanz. Sie begruben ihre Toten in der Nähe des Flussufers und setzten zumeist beschriftete Grabsteine. Herkunftsgebiet der Wikinger, die in Osteuropa Handel trieben und Raubzüge unternahmen, war nicht nur Schweden. Auch von den Küsten Finnlands, wo sich schwedische Siedler niedergelassen hatten, zogen Wikinger nach Süden. In Finnland ist bislang nur eine einzige, noch dazu nur fragmentarisch erhaltene Runeninschrift gefunden worden.

3 Altungarische oder Szekler Kerbschrift

Bei der den Ungarn nahestehenden Volksgruppe der Szekler in Siebenbürgen war vom 9. bis 12. Jh. eine eigene Schriftart in Gebrauch, die im Ungarischen ›rovásírás‹ („Kerbschrift“) genannt wird. Äußerlich ähneln die Zeichen den germanischen Runen, mit denen sie aber historisch in keiner Verbindung stehen.

Schriftzeugnisse sind spärlich und erst aus dem 15. Jh. bekannt. Insgesamt 45 Zeichen dieser Schrift wurden auf einem Pergamentblatt überliefert, das als Beilage in einem 1483 in Nürnberg gedruckten Buch gefunden wurde. Diese Zeichenliste wird das Nikolsburger Alphabet genannt. Im Begleittext der Liste findet sich auch ein Hinweis darauf, dass die Zeichen in Holz geschnitten worden seien. Die einzige längere Inschrift in dieser K. findet sich in einer Kirche in der Ortschaft Csíkszentmihály in Siebenbürgen. Eine andere Inschrift ist von einem ungarischen Reisenden in Istanbul entdeckt worden.

Es ist zwar einfach, die altungarische K. in einen schrifttypologischen Vergleich mit anderen ähnlichen Schriftarten zu stellen (z. B. germanischen oder alttürkischen Runen), bisher aber sind die Analysen zu möglichen historischen Affiliationen der K. im Spekulativen verblieben. Für ungefähr 13 Zeichen lassen sich unzweifelhafte Parallelen mit Zeichen der alttürkischen (sibirischen) K. aufzeigen.

Lange dachte man, die altungarische K. stünde isoliert in der Schrifttradition Mitteleuropas. Aufgrund von Grabfunden aus den 1980er Jahren weiß man, dass auch bei den Awaren eine K. in Gebrauch war. Möglichweise stehen sowohl die altungarische als auch die awarische K. historisch mit der alttürkischen (sibirischen) Schrift in Zusammenhang, deren Zeugnisse (Steininschriften) aus dem 8. Jh. stammen.

4 Awarische Kerbschrift

Die awarische und donaubulgarische Kerbschrift Dass die Awaren – ähnlich wie die Ungarn – eine Kerbschrift verwendet haben, ist mit Sicherheit erst seit den 1980er Jahren bekannt. In einem Frauengrab aus der Gegend von Szarvas (Südost-Ungarn) ist ein Nadelbehälter aus Knochen gefunden worden. Dieses Grab lässt sich auf die erste Hälfte des 8. Jh. datieren und trägt eine Inschrift in Kerbschrift mit insgesamt 58 Zeichen. Bislang ist diese die längst bekannte Kerbschrift.

Auch die Runenzeichen auf den Goldgefäßen des Schatzfundes von Sānnicolau Mare (rumän., ungar. Nagyszentmiklós, dt. hist. Groß Sankt Nikolaus) in Siebenbürgen weisen auf die awarische Kerbschrift. Nach anderer Forschungsmeinung gehört der Goldschatz von Nagyszentmiklós aufgrund der Stilformen der Gefäße zum Kulturkreis der Donaubulgaren. Demnach stünden die Kerbzeichen im Zusammenhang mit einer möglicherweise auch von den Donaubulgaren verwendeten Kerbschrift. Solche Zeichen sind auch in den Felsritzungen in der Gegend von Pliska und Preslav in Bulgarien identifiziert worden.

Die Awaren, die von Zentralasien nach Osteuropa migriert waren, siedelten seit 570 in Pannonien. Da die awarische Kerbschrift nach ihren Zeichenformen und ihren Gebrauchsfunktionen der aus den Steininschriften Südsibiriens bekannten alttürkischen Runenschrift (des 7. und 8. Jh.) ähnelt, ist berechtigterweise die Frage nach einem historischen Zusammenhang gestellt worden. Es ist durchaus möglich, dass die Awaren während ihrer Migration und im Kontakt mit anderen türkischen Stämmen die alttürkische Schrift kennen lernten und dann in ihren späteren Wohnsitzen selbst verwendeten. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass in dem später von Ungarn besiedelten Gebiet eine Kerbschrift vor deren Landnahme (896) verbreitet war.

Daniels P.T., Bright W. (Hg.) 1996: The world´s writing systems. New York. Haarmann H. 1992: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt a. M. Haarmann H. 2004: Lexikon der untergegangenen Sprachen. München. Krause W. 1953: Handbuch des Gotischen. München. Röhrborn K., Veenker W. (Hg.) 1985: Runen, Tamgas und Graffiti aus Asien und Osteuropa. Wiesbaden Sándor K. 1997. Rovásírás. pserve.hu/rovas (http://www.pserve.hu/rovas/)(Stand 5.9.2003)

(Harald Haarmann)

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