Feste (Russland)

Feste (Russland)

Inhaltsverzeichnis

1 Mittelalter und Frühe Neuzeit

Die ersten Berichte über Feste in Russland stammen aus Chroniken, wobei die Taufe Vladimirs I. Svjatoslavič das herausragende Ereignis darstellt. Die sehr viel breiter praktizierten heidnischen Festpraxen erhalten meist indirekte Beschreibungsmerkmale, wenn gegen sie polemisiert oder vorgegangen wird. Dabei sind die immer wiederkehrenden Elemente der heidnischen Festkultur der Bärentanz, die Spielmänner (›skomorochi‹), Bräuche zu Weihnachten oder Neujahr (meist mit Bezug zu Fruchtbarkeitskulten) und v. a. der übermäßige Genuss von Alkohol sowie diverse andere Tänze. Diese verdeckte heidnische Festkultur findet jedoch auch immer wieder den Weg in die christlich geprägten Kulturbereiche wie Malerei und Schrift. In der Kiewer Sophienkathedrale (Sofijskij Sobor) werden z. B. ›skomorochi‹ auf einem Fresko dargestellt. Musikanten und andere heidnische Berufe (Tierdresseure) finden Eingang in die Initialen auch in der christlich geprägten Schriftkultur.

Die Moskauer Kultur wurde seit dem 16. Jh. zusätzlich durch eine zunehmend zur Schau gestellte Festkultur der Kirche geprägt. Hier standen v. a. die Prozessionen am Palmsonntag und an Drei Königen als Demonstration der Einheit zwischen dem obersten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche und dem Zaren im Zentrum. Ein besonderes Element ist in diesem Rahmen die theatralisch angelegte alttestamentarische „Geschichte der drei Jünglinge“ (›pesnoje delo‹), die spätestens seit dem 16. Jh. in Novgorod und anderen russischen Städten in einer breiten Öffentlichkeit nachgespielt wurde.

Im 17. Jh. entwickelte sich am Zarenhof eine Festkultur, die sich aus der ausschließlichen Ausrichtung auf Traditionen und kirchliche Bezugsgrößen auch westlichen Einflüssen öffnete. Es lassen sich schon zu Beginn des 17. Jh. versteckte westliche Repräsentationsformen entdecken. So sind z. B. Anfang des 17. Jh. eine Orgel und Organisten nachgewiesen, über eine etwaige Verwendung finden sich jedoch keine Dokumente. Orgeln waren durch einen von der Kirche ausgesprochenen Bann und ihre Assoziation mit dem nicht-orthodoxen Westeuropa nicht zur öffentlichen Darbietung geeignet. Diese kulturellen Abwehrmechanismen gegen das Fremde zeigten sich besonders beim Sturz des ersten Pseudo-Demetrius, der sich wesentlich durch seine offene Sympathie für westlicher kultureller Repräsentationsformen in Moskau disqualifizierte und dessen Körper nach seiner Ermordung theatralisch zur Schau gestellt wurde. Trotz dieser öffentlichen Ablehnung westlicher Kulturformen berichteten Diplomaten im 17. Jh. mit zunehmender Akribie, wie an westeuropäischen Höfen gefeiert wurde. Ein erster limitierter „Ausbruch“ dieser versteckten Rezeption westeuropäischer kultureller Formen ist jedoch erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. mit einem Hoftheater unter Zar Aleksej Michajlovič dokumentiert, dessen Tätigkeit jedoch schon bald darauf wieder eingestellt wurde. Ebenfalls auf einen engen Adressatenkreis am Hofe des Zaren waren andere gewandelte und neuartige Repräsentationsformen gerichtet, wie z. B. das Krönungszeremoniell, das eine neue Ausdrucksform erhielt und die von einer polnisch beeinflussten ukrainisch-weißrussischen Geistlichkeit verfasste panegyrische Dichtung. Die aus dem 16. und 17. Jh. überlieferten zentralen religiösen Prozessionen am Palmsonntag und an Drei Königen verloren sichtlich an Bedeutung. Einen deutlich markierten Bruch vollzog aber erst Pëtr I. Alekseevič, der westliche Praktiken wie das Feuerwerk, die Architektur der neuen Sommerschlossresidenzen mit Gartenanlagen, die Einführung von Statuen sowie die Organisation der Maskeraden und Kostümbälle bewusst und sichtbar einführte und damit die Grundlagen für eine westliche orientierte Festkultur am Zarenhof im 18. Jh. legte.

Kämpfer F. 1978: Das russische Herrscherbild. Von den Anfängen bis zu Peter dem Großen . Studien zur Entwicklung politischer Ikonographie im byzantinischen Kulturkreis. Recklinghausen (= Beiträge zur Kunst des christlichen Ostens, 8). Lachmann R. (Hg.) 1991: Die Lachwelt des Alten Russland. München.

(Stefan Schneck)

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2 Feste im zarischen Russland

Die Festlandschaft im Zarenreich im 19. Jh. war eine überaus heterogene. Grob lässt sich diese in eine höfische, eine religiöse, eine bürgerliche, eine dörfliche Festkultur sowie in Festlichkeiten im Milieu der Arbeiterschaft und der ethnischen Gruppen des russischen Vielvölkerreichs gliedern. Erstere werden im folgenden kurz vorgestellt. Zu letzterem lässt auf Grund der bislang schlechten Forschungslage noch wenig sagen. Die höfische Festkultur schrieb auch im 19. Jh. die Feiertraditionen des Zarenhauses des 18. Jh. fort. Eine deutliche Zäsur lässt sich erst mit der Verdichtung von festlichen Großveranstaltungen im beginnenden 20. Jh. erkennen. Anderen europäischen Herrscherhäusern nicht unähnlich ließ Nikolaj II. eine Reihe von Thron- und Schlachtenjubiläen in bisher ungekannter Größenordnung begehen. Das 200. Jubiläum des Siegs von Poltava (Schlacht)|Poltava]], die Einhundertjahrfeier der Schlacht von Borodino 1912 und vor allem die Terzennienfeier der Inthronisierung des ersten Romanov 1913 waren aufwendig und massenmedial vorbereitete Festinszenierungen, die nicht nur die Hauptstädte des Reichs, sondern auch Teile der Provinzen in die Feierlichkeiten miteinbezogen. Das Zarenhaus versuchte in diesen Festveranstaltungen eine emotionale Bindung an die Person des Zaren zu produzieren, mit der die Organisatoren das brüchig gewordene Gesamtgefüge des Zarenreichs zusammenhalten zu können glaubten.

Im autokratischen Russland konnte sich dagegen eine bürgerliche Festkultur nur in Ansätzen entwickeln. V. a. bei Stadtgründungsfeiern, wie 1891 die Dreihundertjahrfeier von Saratov, oder beim Befeiern von Dichtern, wie bei der Errichtung von Puschkin-Denkmälern, taten sich bürgerliche Honoratioren zur Festplanung zusammen.

Eng verbunden mit den zarischen Feiern waren die Festpraktiken der hohen orthodoxen Geistlichkeit. Ihnen war nicht nur ein privilegierter Platz in der höfischen Festordnung zugeteilt, sondern der orthodoxe Festkalender konnte sich seinerseits der kaiserlichen Aufmerksamkeit erfreuen. Eine intensive Beachtung des facettenreichen orthodoxen Festkalenders lässt sich allerdings nicht nur bei Nikolaj II. beobachten, sondern war ebenso ein Grundzug der russischen dörflichen Festkultur. In der Tradition des ›mnogoverie‹ wurden hier offizielle kirchliche Festdaten mit solchen heidnischen Ursprungs verbunden. Ein feiertagsreicher Kalender war die Folge. Um die Jahrhundertwende ruhte im russischen Dorf an bis zu 140 Tagen im Jahr die Arbeit. An kirchlichen Hochfesten wie Ostern konnten sich dörfliche Festgelage über mehrere Tage erstrecken. Oft genug waren sie von exzessivem Alkoholkonsum und Gewalttätigkeiten begleitet.

Eine solche dörfliche Festtradition nahmen die bäuerlichen Migranten mit in die Städte. Die Festkultur der städtischen Unterschichten war bis ins 20. Jh. hinein stark von dörflicher Tradition geprägt. Parallel dazu hatten religiöse Festriten und -anlässe einen gewichtigen Einfluss. Daher versuchte ein unternehmerischer Paternalismus über das Medium Fest moral-pädagogisch zu wirken. In größeren Betrieben wurde zum Teil eine intensive Festpflege betrieben, bei der im gemeinsamen Feiern eine betriebliche Gemeinschaft entstehen sollten. Parallel dazu entwickelten verschiedene Berufssparten auch eigenständige Festpraktiken, mit denen sie sich ihres Status vergewisserten und gegenüber nachfolgenden, ungelernten Migranten abzusetzen versuchten.

Von eher randständiger Bedeutung war dagegen eine sozialistische Festkultur. So blieben die Festhandlungen am Ersten Mai als „Arbeiterkampftag“ bis 1917 eine periphere Erscheinung. Die Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern, zwischen revolutionären Parteien und Staat griffen auf andere symbolische Formen als das Fest zurück. Der Streik, das Attentat, der Pogrom waren eher die Handlungen, in denen sich die Konfrontation bündelte – nicht die im Geheimen begangenen Maifeiern (maevki) der revolutionären Parteien. Unter den revolutionären Festlichkeiten vor 1917 gewannen vor allem die Beerdigungsprozessionen für „Märtyrer“ an Bedeutung. Eine der ersten öffentlichen Festhandlungen nach dem Sturz des Zaren war dann auch die Beisetzung der Gefallenen der Februarrevolution am 23.3.1917. Mit der Revolution war es über Nacht möglich geworden, den öffentlichen Raum für sozialistische Festmanifestationen zu nutzen.

Figes O. 2002: Natasha's Dance. A Cultural History of Russia. New York. Gestwa K. 1999: Proto-Industrialisierung in Rußland. Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo, 1741-1932. Göttingen. Häfner L. 2000: Städtische Eliten und ihre Selbstinszenierung. Die Dreihundertjahrfeier Saratovs 1891. Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 48/1, 17-40. Mironov B. N. 1994: Work and Rest in the Peasant Economy of European Russia in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. Blanchard I. (Hg.): Labour and Leisure in Historical Perspective, Thirteenth to Twentieth Centuries. Stuttgart, 55-64. Schneider, K. 2001: 100 Jahre nach Napoleon. Rußlands gefeierte Kriegserfahrung. Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 49/1, 45-66. Wortman R. 2000: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Alexander II to the Abdication of Nicholas II. Bd. 2. Princeton.

(Malte Rolf)

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3 Sozialismus

1917-1927

Die Geschichte des sozialistischen Fests als legales Staatsfest beginnt mit dem Ersten Mai 1917. Es hatte zu diesem Datum auch im vorrevolutionären Russland sozialistische Festrituale gegeben, doch zu offiziellen Festlichkeiten wurden sie allerdings erst, nachdem die Provisorische Regierung den Tag zum regulären Staatsfeiertag erklärt hatte.

Die nachrevolutionären sozialistischen Feste waren in der Frühzeit ein sichtbares Schauspiel der Zerstrittenheit der politischen Lager. Bereits am Ersten Mai 1917 feierten die konkurrierenden Parteiungen den Sturz des Zaren in getrennten Kolonnen und unter verschiedenen Bannern. Bis zur Machtergreifung der Bolschewisten bestand zunächst eine allgemeine Festfreiheit, in der jede Gruppierung in festlichen Prozessionen ihren Anspruch auf die Macht demonstrieren konnte.

Das sollte sich nach dem Oktoberumsturz schnell ändern. Wie auch im politischen Feld monopolisierten die Bolschewisten das Recht auf Festlichkeit. Schon der Erste Mai 1918 war eine Alleinveranstaltung der neuen Machthaber. Bis zum ersten Revolutionsjubiläum hatte sich der Fest- und Symbolkanon der Bolschewisten soweit standardisiert, dass bereits ein Jahr nach der Oktoberrevolution die staatssozialistische Festlichkeit die Grundzüge trug, die bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 Bestand haben sollten. Das staatssozialistische Fest der Bolschewisten war ein dreigeteiltes: Am Vorabend des Feiertags fanden die Festsitzungen der partei-staatlichen Institutionen statt. Der Festtag selber begann mit einer Truppenparade, gefolgt von einem Demonstrationsumzug der Zivilisten. Den Nachmittag und zum Teil auch den Folgetag reservierten die Organisatoren für Elemente des Volksfests und des Jahrmarkts. Bald nach der Revolution war auch der „rote Kalender“, der offizielle Festkalender der Sowjetmacht, festgelegt. Im Dezember 1918 erließen die Bolschewisten einen neuen Feiertagskanon, mit dem Revolutionsfeiertag und dem Ersten Mai als den zentralen staatssozialistischen Hochfesten.

Die Jahre des Bürgerkriegs (1918-21) bedeuteten keinen Abbruch aufwendig betriebener offizieller Festlichkeit. Vielmehr wurden an Festtagen vor allem in Petrograd Massenschauspiele im öffentlichen Raum organisiert, bei denen Tausende als Statisten beteiligt waren. 1921 jedoch kam es zu einem abrupten Ende dieser Theaterexperimente. Mit der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik war eine Zeit des Sparens angebrochen. In den Jahren 1921-27 hielt sich der Parteistaat bei der Befestung des öffentlichen Raums zurück. Die Hochfeste des Roten Kalenders wurden weiterhin mit Demonstrationsumzügen begangen, doch fehlten die finanziellen Mittel, größere choreographische oder dekorative Projekte umzusetzen. Eine zurückgenommene zentrale Leitung ermöglichte allerdings auch Spielräume für eine Festgestaltung, die von Klubs und Künstlerkreisen getragen wurde. Formen des Politkarnevals wurden hier dezentral entwickelt und auf die Straße gebracht.

1927-1941

Mit dem Zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution 1927 kehrte der Parteistaat als Festorganisator in den öffentlichen Raum zurück. Anlässlich der ersten Dezennienfeiern sollten die „Errungenschaften“ von zehn Jahren Sowjetherrschaft sichtbar präsentiert und öffentlich gefeiert werden. Eine zentrale Festkommission wurde beim Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR eingerichtet, die den Festbetrieb unionsweit zu steuern versuchte. Allerdings wurden die eingespielten choreographischen Grundmuster sozialistischer Festlichkeit weitgehend unverändert beibehalten. Der Zehnte Jahrestag markiert eher eine Zäsur in der Aufmerksamkeit, die der Parteistaat einem öffentlichen Festwesen widmete. Dies sollte in den folgenden Jahren noch zunehmen. In der Periode des Großen Umbruchs und in den dreißiger Jahren ereignete sich eine Festexpansion, die auch die frühen nachrevolutionären Massenspektakel in den Schatten stellte. Immer mehr Festanlässe wurden mit immer größerem Aufwand begangen. Das Regime schien hier von der Logik eines Inszenierungszwangs getrieben zu sein: Kein Fest durfte weniger imposant sein als das des Vorjahrs.

Die Feste des Großen Umbruchs zeichneten sich durch eine stark antireligiöse Orientierung aus. Das sozialistische Fest wurde dem religiösen gegenübergestellt und sollte, in der Vorstellung der Organisatoren, an die Stelle kirchlicher Festriten treten. V. a. der Erste Mai trug angesichts der unmittelbaren Konkurrenz zum orthodoxen Osterfest den Charakter einer antireligiösen Kampfveranstaltung. Überhaupt dominierte in der festlichen Rhetorik der Periode des Ersten Fünfjahrplans der Topos des (kultur-)revolutionären Kampfs. Die adäquate Festfarbe war dabei das Grau des Soldatenmantels und das Rot der revolutionären Bewegung. Davon setzten sich die Feste der dreißiger Jahre deutlich ab. Seit 1935 dominierte die Farbe Weiß den sowjetischen Festraum und repräsentierte die neue, von der politischen Führung verordnete Gegenwartszufriedenheit. Die Feste des Stalinismus demonstrierten auch, dass es nun wieder soziale Hierarchien geben durfte. Festliche Choreographien privilegierten die Träger des Regimes, indem Bestarbeiter die Festkolonnen anführten und Stachanowisten einen Ehrenplatz auf der Festtribüne zugewiesen bekamen.

Aber längst nicht alle durften an einem offiziellen sozialistischen Fest teilnehmen. Das sozialistische Fest im Stalinismus grenzte bewusst Menschen aus, die nicht als Teil der neuen Gemeinschaft von Sowjetbürgern gesehen wurden. So wurden Städte im Vorfeld von Festtagen von „sozial schädlichen Elementen“ „gesäubert“. Gleichzeitig brachte das Fest auch den Terror der totalitären Diktatur auf eine öffentliche Bühne, indem alljährlich auf der Tribüne sichtbar wurde, wer den Säuberungen zum Opfer gefallen war. Fest und Terror wirkten in den dreißiger Jahren ineinander und stellten keine Gegenpole dar. Deshalb bedeuteten die Jahre 1937-38 auch keinen Bruch in der Geschichte des sozialistischen Massenfests. Der Festbetrieb wurde während des Großen Terrors unvermindert aufrecht erhalten.

1941-1991

Erst der Beginn des „Großen Vaterländischen Kriegs“ 1941 markiert eine Zäsur für den sozialistischen Festbetrieb. In den ersten Kriegsjahren wurden die Feste des Roten Kalenders als kleindimensionierte Betriebsversammlungen begangen. Dennoch zeugt die Truppenparade auf dem Roten Platz vom 7.11.1941 von dem Stellenwert, den festliche Großinszenierungen für das Regime auch in Zeiten des Kriegs behielten. Als sich der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland andeutete, knüpften die sowjetischen Festorganisatoren an die Vorkriegstradition an. Schon 1944 und 1945 wurden öffentliche Festveranstaltungen in den althergebrachten choreographischen Mustern veranstaltet. Nun ließen sich der Rote Kalender und das staatssozialistische Festwesen auch über die Grenzen der Sowjetunion hinaus exportieren.

In den von der Roten Armee befreit-besetzten Ländern Ostmitteleuropas mussten sich die sowjetischen Feiern allerdings gegenüber starken traditionellen Konkurrenten behaupten. In Ländern wie Polen oder Ungarn kam es auch nach der Gründung der Volksdemokratien zu Zusammenstössen zwischen kirchlichen Festritualen und dem parteistaatlich dekretierten Festkanon. Und als sich in Polen zu Beginn der achtziger Jahre die Solidarność-Bewegung in öffentlichen Umzügen kundtat, griff sie auf den ungebrochen lebendigen kirchlichen Symbol- und Festhaushalt zurück. Die neuen Festkalender der Volksdemokratien gingen zudem Fusionen mit den Festdaten der nationalen Meisterzählungen ein und integrierten z. B. in Ungarn die 1848-Revolution in den offiziellen Festkanon. Durch solche Fusionen entstanden in der sowjetischen Einflusssphäre national-spezifische Festkalender, deren Hochfeste jedoch nach weitgehend angeglichenen choreographischen Mustern begangen wurden.

In der Sowjetunion der Nachkriegszeit bildet auch der Tod Stalins 1953 keinen wirklichen Einschnitt in der staatssozialistischen Festkultur. Unter Chruščev wurde der stalinsche Festbetrieb, wenngleich „entstalinisiert“, aufrecht erhalten und auch unter Brežnev tradiert. Es kamen wichtige neue Festdaten, wie der Tag des Sieges, hinzu, so dass der Festkalender noch umfangreicher wurde. Stärker als in der Vorkriegszeit erhielten sozialistische Feste nun eine private Dimension. Man beging die Feiern des Roten Kalenders nicht mehr nur im größeren betrieblichen Kollektiv, sondern auch im Kreis der Familie und mit Freunden. Gleichzeitig erfolgte eine Einbettung offizieller Festlichkeit in den ethnischen Milieus des sowjetischen Vielvölkerreichs. Die Feste des Roten Kalenders wurden teilweise „indigenisiert“, indem sie mit traditionellen Festmustern vor allem der Titularnationen der jeweiligen Sowjetrepublik verschmolzen wurden. Gleichzeitig beging man aber auch zunehmend ethnisch-spezifische Festdaten. An letztere konnten die nach 1991 entstandenen unabhängigen Staaten anknüpfen, während die Festdaten des Roten Kalenders aus dem Feiertagskanon gestrichen wurden. In der Russischen Föderation jedoch haben einige der vormals staatssozialistischen Festtage bis heute Bestand, wenn auch oft unter gewendetem Namen.

Geldern J. v. 1993: Bolshevik Festivals, 1917-1920. Berkeley. Gibas M., Gries R., Jakoby B., Müller D. (Hg.) 1999: Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage in der DDR. Leipzig. Klimó Á. v.2003: Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860-1948). München. Lane Ch. 1981: The Rites of Rulers. Ritual in Industrial Society - The Soviet Case. Cambridge. Petrone K. 2000: "Life has become more joyous, comrades": Celebrations in the Time of Stalin. Bloomington. Rolf M. 2006: Das sowjetische Massenfest. Hamburg. Stites R. 1989: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York.

(Malte Rolf)

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