Samisdat

Samisdat (russ. Samizdat, ukrain. Samvydav).

Inhaltsverzeichnis

1 Geschichte

Mit dem Tod Stalins am 5.3.1953 und nach dem XX. Parteitag 1956 begann in der sowjetischen Kulturpolitik eine Periode, die größere schöpferische Freiheit und mehr Offenheit auch in Richtung Westen versprach. Bald schon wurde jedoch deutlich, dass dieses Versprechen trügerisch war; und diese Entwicklung war der Ausgangspunkt für die Entstehung einer „zweiten Kultur“, deren prägnantester Ausdruck der S. ist. In der Sowjetunion taucht diese Form der unabhängigen Kommunikation seit den 60er Jahren, in den anderen sozialistischen Ländern etwa seit Mitte der 70er Jahre auf. Unter S. („Selbstverlag“ - aus russisch sam „selbst“ und izdatʼ „verlegen“, in Anlehnung an vergleichbare Akronyme wie Gosizdat „Staatsverlag“) versteht man die Vervielfältigung und Distribution von Texten ohne Genehmigung der Zensur und ohne Mitwirkung eines (offiziellen) Verlages. Schon der Versuch, Schriften außerhalb der kontrollierten Publikationswege zu veröffentlichen, stellte jedoch einen Straftatbestand dar. Es handelt sich daher um eine Form des Dissens' neben ›Tamizdat‹ („Dort-Verlag“, d. h. die Publikation im nichtsozialistischen Ausland) und Exil. Als weitere verwandte Begriffe und Phänomene können gelten: ›Kolizdat‹ („Mengenveröffentlichung“) für die Publikation zusammengehefteter Kompilationen einzelner S.-Texte, ›Radizdat‹ als Bezeichnung für Texte und Musik, die über ausländische Radiosender verbreitet wurden, und ›Magnitizdat‹ für die Vervielfältigung von Musik und Versen über Tonbänder, die entweder Radiomitschnitte oder Aufnahmen von Lesungen und Konzerten im privaten Kreis enthielten. Insgesamt hat sich jedoch S. für all diese Formen der Verbreitung inoffizieller Texte als Sammelbegriff durchgesetzt.

Der Begriff S. wird dem Moskauer Schriftsteller Nikolaj Glazkov zugeschrieben, der schon seit 1944 seine handgeschriebenen Poesiehefte mit der Aufschrift ›Samsebjaizdat‹ (etwa „Verlag für sich selbst“) versah. Die Wurzeln des Phänomens liegen jedoch tiefer. Die Veröffentlichungsverfahren des S. werden in der Forschung häufig in eine Reihe mit der mittelalterlichen Abschreibepraxis in den Klöstern gestellt. Der S. erscheint in diesem Zusammenhang als Rückgriff auf eine „Prä-Gutenbergsche-Ära“, welche dem nicht gedruckten Buch eine besondere Aura verleiht. Darüber hinaus gibt es Vorläufer des Phänomens in der russischen Geschichte: Von Aleksandr Radiščevs „Reise von Petersburg nach Moskau“ (russ. Putešestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790) über die Verbreitung von Manuskripten im Umkreis des Dekabristen-Aufstandes 1825 bis hin zu den revolutionären Bewegungen und Zirkeln der zweiten Hälfte des 19. Jh. (darunter auch Lenins ›Bolʼševiki‹), denen alle legalen Wege zur Veröffentlichung ihrer Schriften verschlossen waren. In der Frühphase der Sowjetunion kursierten bereits maschinenschriftliche Texte verfemter Dichter unter der Bezeichnung ›Underwood‹ (nach der Marke der verwendeten Schreibmaschine). Als weitere Vorformen sind die mündliche Weitergabe von Texten über Lesungen im privaten Kreis oder die handschriftlichen Bücher, die in stalinistischen Arbeitslagern kursierten, zu nennen.

Nach dem Wegfall der autoritären Verlagsstrukturen sind es heute nicht politische, sondern ökonomische Interessen, welche die Veröffentlichung von literarischen Texten behindern. Eine Art Nachfolger hat der S. im Internet gefunden, wo sich eine ganze Reihe von privaten Publikationsmedien etabliert hat.

2 Produktion

Das wichtigste Instrument des „klassischen“ S. ist die Schreibmaschine, auf der die Texte auf sehr dünnem Papier mit Hilfe von Kohlepapier (mit bis zu 15 Durchschlägen), in der Regel mit nur geringem Rand und einfachem Zeilenabstand, häufig auch doppelseitig, vervielfältigt wurden. Die Lesbarkeit war dadurch zum Teil sehr beeinträchtigt. Andere technische Vervielfältigungsmethoden wie Kopiergeräte oder Druckmaschinen waren in der Sowjetunion kaum verbreitet und ihre Verwendung stark reglementiert. Die Tipparbeit wurde von Freiwilligen oder bezahlten Helfern durchgeführt. Die z. T. vom Autor signierten Kopien (obwohl auch die Verwendung von Pseudonymen verbreitet war) wurden weitergegeben oder oft auch gemeinsam gelesen. Die so entstandene Auflage konnte zwischen mehreren Hundert und Tausend Exemplaren variieren. Die Verbreitung und der Leserkreis waren durch dieses Verfahren für den Autor nicht mehr nachvollziehbar. Einige Exemplare erreichten im Gepäck von Diplomaten und Korrespondenten auch das Ausland.

3 Form und Inhalt

Im S. kursierte jegliche Form von Information, die auf anderem Wege keinen Zugang zu einem Publikum gefunden hätte: von zeitgenössischer Literatur über die nicht wieder aufgelegten Texte der in der Sowjetunion geächteten Moderne, in der Emigration entstandene Texte, Übersetzungen westlicher Literatur, nicht systemkonforme politische Meinungen und Programme jedweder Art, religiöses und philosophisches Gedankengut bis hin zu Pornografie. Es waren alle Formen des geschriebenen Wortes vertreten: Romane, Anthologien Essays und wissenschaftliche Abhandlungen, Künstlerbücher, Alben und Kataloge, aber auch offene Briefe, Flugblätter, Unterschriftensammlungen, Prozessprotokolle, Predigten, Chroniken und Bulletins. Manche der Editionen enthielten auch Illustrationen. Mit der Zeit etablierte sich die Form des S.-Periodikums: Als bekannteste Beispiele für die Sowjetunion seien hier die von Aleksandr Ginzburg herausgegebene Poesiezeitschrift „Syntax“ (russ. Sintaksis) und die seit 1968 erscheinende und von der Lyrikerin Natalʼja Gorbanevskaja gegründete Zeitschrift „Chronik der laufenden Ereignisse“ (russ. Chronika tekuščich sobytii) genannt, welche zu einem Sprachrohr der Dissidenten- und Menschenrechtsbewegung wurde.

4 Verbreitung

Obwohl der Begriff russischen Ursprungs ist, war das Phänomen im ganzen ehemals sozialistischen Osteuropa verbreitet, besonders aber in der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn. Dabei bildeten sich dort spezifische, von der sowjetischen Praxis abweichende Formen heraus.

In der Tschechoslowakei gab es bereits kurz nach dem Krieg einige „Inseln“ der unabhängigen Literatur und Kunst, etwa im Umkreis der Surrealisten. Seit den 70er Jahren existierten mehrere Veröffentlichungsreihen, in der maschinenschriftliche, aber professionell gebundene und zum Teil bibliophil gestaltete und mit Fotografien oder Originalgrafiken versehene Texte verbreitet wurden. Als bekannteste ist die von Ludvík Vaculík ab 1972 herausgegebene Reihe „Edition Schloss und Riegel“ (tschech. Edice Petlice) zu nennen, die bis 1987 fast 400 Titel vorwiegend literarischen Charakters verzeichnete. Unter den Autoren dieser Reihe waren so bekannte Namen wie Ivan Klíma, Jiří Gruša, Ota Filip, Bohumil Hrabal oder Jaroslav Seifert vertreten. Anders als in der Sowjetunion war die Auflage zunächst auf einige vom Autor signierte Exemplare beschränkt, die zudem auf dem Titelblatt mit dem ausdrücklichen Verbot des Autors, die Schriften zu vervielfältigen, versehen waren. Damit war er rechtlich gegen eine Strafverfolgung abgesichert. 1975 rief Václav Havel die „Edition Expedition“ (tschech. Edice Expedice) ins Leben, die bis 1989 etwa 300 Titel auch jüngerer Autoren und aus dem Underground-Umkreis veröffentlichte. Zwischen 1975 und 1980 erschienen 120 Titel der „Edition Quart“ (tschech. Edice Kvart). Die Gründung der Charta 77 führte zu einem weiteren Anschwellen der im S. veröffentlichten Materialien und zur Entstehung weiterer Editionsreihen mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Auch in Polen, wo man ja auf eine lange Geschichte der Besatzung und Unterdrückung zurückblicken kann, gibt es eine Tradition illegaler Kommunikation. Als Initialzündung für die Entstehung eines S. im modernen Sinne gilt die Gründung des „Komitees für die Verteidigung der Arbeiter“ (poln. Komitet obrony robotników, KOR) 1976 und die Entstehung der „Bewegung für die Verteidigung der Menschen- und Staatsbürgerrechte“ (poln. Ruch obrony praw czlowieka i obywatela, ROPCiO) im gleichen Jahr. Die beiden Organisationen publizierten – zusammen mit weiteren oppositionellen Gruppierungen – mehr als 30 periodisch erscheinende Zeitschriften, darunter „Informationsbulletin“ (poln. Biuletyn Informacyjny), „An der Schwelle“ (poln. U progu), „Meinung“ (poln. Opinia) und die Literaturzeitschrift „Aufzeichnung“ (poln. Zapis). Mit NOWA (poln. Niezależna Oficyna Wydawnicza) in Warschau entstand ein unabhängiger Untergrundverlag. Dabei kamen auch andere technische Methoden als die manuelle Abschrift zum Einsatz: selbstgebaute Druckmaschinen (›ramka‹), Matrizen-Abziehgeräte, sogar Siebdruck- und Offsetdruckmaschinen, zu denen sich die Herausgeber zum Teil durch Bestechung Zugang verschafften. Dadurch waren auch höhere Auflagen möglich. Im Gegensatz zur Sowjetunion, wo die Verschärfung der Bedingungen seit Anfang der 80er Jahre den S. erfolgreich eingedämmt hatte, konnte die dissidente Meinungsäußerung in Polen auch nach Ausrufung des Kriegsrechtes 1981 niemals vollständig unterdrückt werden und erwies sich als Wegbereiterin politischer Reformen. Bis 1989 wurde über 1500 Zeitschriften herausgegeben; die Zahl der verlegten Bücher und Broschüren beläuft sich zwischen 1976 und 1989 auf mehr als 6500 Titel.

In Ungarn war seit Beginn der 70er Jahre ein maschinengeschriebener S. verbreitet, der über private Buchmärkte vertrieben wurde: In Privatwohnungen waren S.-Schriften ausgelegt und konnten von Interessenten vorbestellt werden. 1980 wurde die Zeitschrift „Der Sprecher“ (ung. Beszélő) sowie der unabhängige Verlag ›ÁB-Beszélő‹ gegründet. Zum Einsatz kamen auch Druckmaschinen nach polnischem Vorbild. Obwohl immer wieder große Teile der Auflagen konfisziert wurden, gelang es den Behörden nicht, den S. zu eliminieren, so dass viele Projekte 1989 den Schritt in die Legalität wagen konnten.

5 Kulturelle Bedeutung

Unter totalitären Bedingungen stellt der S. das einzige Medium einer unabhängigen literarischen Öffentlichkeit dar, welche die Kontinuität einer Nationalkultur gewährleistet, wenn diese durch die politischen Umstände bedroht ist. Durch die Interaktion mit anderen kulturellen Formen (bildende Kunst, Drama, Musik usw.) wird darüber hinaus die Entfaltung einer unabhängigen Kultur und Wissenschaft ganz allgemein gefördert. Nur hier kann der politische Dissens seinen Ausdruck finden und der Demokratisierung der Gesellschaft den Weg ebnen. Schließlich stellt der S. die einzige von der Propaganda nicht kontaminierte Informationsquelle über die Verhältnisse im jeweiligen Land dar. Aus der Sicht des Regimes ging vom S. eine große Bedrohung aus, die von den Behörden mit Bespitzelung, der Konfiszierung der Schreib- und Druckmaterialien und nicht selten mit direkter Strafverfolgung beantwortet wurde, während die offizielle Presse mit der Kriminalisierung und Pathologisierung der im S. veröffentlichten Autoren reagierte.

6 Archive

Mit der Sammlung, Archivierung und Dokumentation der Materialien wurde bereits sehr früh begonnen. Über umfangreiche S.-Archive verfügen etwa der Sender ›Radio Liberty‹ in München und die Forschungsstelle Osteuropa in Bremen.

Eichwede W. (Hg.) 2000: Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre. Bremen. (=Kat.) Hirt G., Wonders S. (Hg.) 1998: Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Bremen. (=Kat.) Pross-Weerth H. 1991: Samizdat in Russland. Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa. Weinheim. (=Kat.) Richter L., Olschowsky H. (Hg.) 1995: Im Dissens zur Macht. Samizdat und Exilliteratur der Länder Ostmittel- und Südosteuropas. Berlin. Skilling H. G. 1989: Samizdat and an Independent Society in Central and Eastern Europe. Columbus.

(Ulrike Goldschweer)


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