Leibeigenschaft (Überblick)

Leibeigenschaft

Inhaltsverzeichnis

1 Begriff und Forschungsgeschichte

L. ist ein klassisches Thema der Historiographie. Seit dem 19. Jh. ist es in den Zusammenhängen von Herrschaft und Recht, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Alltag und Mentalität untersucht worden. Die L. in Osteuropa war ein Phänomen der Frühen Neuzeit. Der häufig in der Literatur gebrauchte Begriff der zweiten L. übersieht, dass es sich bei der L. im frühneuzeitlichen Osteuropa um ein völlig neues Phänomen und nicht um das Wiederauftauchen einer älteren Einrichtung handelte. Im Mittelalter bezeichnete L. allein die persönliche Abhängigkeit eines Menschen, der der dauernden Herrschaft eines anderen Menschen unterworfen war. In der L. des frühneuzeitlichen Osteuropa hingegen war der Gutsherr dem Leibeigenen zugleich Gerichts-, Grund- und Leibherr. Die Grenzen des Raumes, in dem die L. in Osteuropa in der Frühen Neuzeit ihre Verbreitung fand, werden von Elbe, Ostsee, Ural und im Süden von einer Übergangszone in den europäischen Besitzungen des Osmanischen Reiches gebildet.

Die deutsche Agrargeschichtsschreibung des späten 19. und frühen 20. Jh. erfasste das Phänomen L. mit römisch-rechtlichen Kategorien, die sie nur auf die deutsche Geschichte, nicht aber auf Ostmitteleuropa angewendet sehen wollte. Die marxistische Geschichtsschreibung verortete die osteuropäische L. im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus unter der Bedingung eines weltweiten Marktes. Während sich dabei im Westen Europas die Agrarwirtschaft kapitalisierte, bildete sich im Osten Europas die L. als System aus, in dem der Adel bäuerliche Arbeitskraft kostenfrei abschöpfte. Gegenwärtig dominiert die Alltags- und Mentalitätsgeschichte die Forschungsagenda zur L. Bei Synthesen, die auf eine Typologie von L.sformen zielen, kommt aber auch in jüngster Zeit den Aspekten Demographie und Herrschaft eine Schlüsselrolle zu. Auf dem Feld der globalgeschichtlichen Komparatistik berechtigt das Kriterium unfreier Arbeit zum methodischen Vergleich mit der Sklaverei in der Antike wie auch in der Neuzeit.

Den naturrechtlichen Vorstellungen der Aufklärung widersprach die L. fundamental. Ihre Aufhebung gehörte mithin ab der Mitte des 18. Jh. zu den zentralen Achsen des philosophischen Diskurses. In der Praxis zog sich die Bauernbefreiung weit in das 19. Jh. hinein, bis zuletzt in Russland 1861 die Aufhebung der L. dekretiert wurde. Die Historiographie behandelt die Bauernbefreiung als eigenes Thema separat von der L.

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2 Entstehungsformen

Allen Formen von L. in Osteuropa ist ein entstehungsgeschichtliches Grundmuster gemeinsam. Die demographischen Krisen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit führten zu Wüstungen und Arbeitskräftemangel. Dem versuchte der Adel mit der Bindung der Bauern und der kostenfreien Nutzung ihrer Arbeitskraft zu begegnen. In welcher Form der adlige Zugriff auf die Bauern zustande kam, hing wesentlich von der jeweiligen Rechtsverfassung und dem Herrschaftsverhältnis zwischen Landesherr und Adel ab. In Ostholstein, Mecklenburg und Brandenburg lag im Mittelalter das Hochgericht beim landesherrlichen Vogt, der als intermediäre Rechtsinstanz zwischen Bauern und Adel stand. Dem Adel bot sich ein stärkerer Zugriff auf die Bauern, als ihm die Vogteien im 14. und 15. Jh. im Zuge von Verpfändungen zufielen. Da die Stände die Landesherren in die Defensive gedrängt hatten, wirkte sich diese Machtverschiebung auch auf der Dorfebene aus.

In Polen liegt der Hintergrund der Schollenbindung im Versiegen des Siedlerstromes nach den demographischen Einbrüchen ab der Mitte des 14. Jh. Das Statut von Petrikau beseitigte 1347 weitgehend die Abzugsfreiheit der Bauern in Großpolen. Mehrere Rechtsakte schrieben bis zum Beginn des 16. Jh. die Schollenbindung fest. Parallel erreichte der Adel die Gerichtsbarkeit über seine Leute. Ähnlich den norddeutschen Fällen war der Kauf des Schulzengutes das Instrument des Adels gewesen, seinen Einfluss in der rechtlichen Sphäre zu erweitern. Verfassungspolitische Dominanz und Entstehung der L. waren zwei Seiten der Ausbildung der polnischen Adelsrepublik. Die dörfliche Sphäre der Adelsgüter lag nunmehr außerhalb der Eingriffsmöglichkeit des Königs.

Die Entwicklungen in Böhmen und Ungarn liegen auf zwei Linien parallel zum polnischen Fall. Es entstand eine ständisch verfasste Adelskorporation und die Adligen erprobten den Zugriff auf die Bauern. Im dicht besiedelten Böhmen jedoch bot das enge Netz von Städten und Manufakturen den Bauern eine Ausweichmöglichkeit. Zur Verschärfung der Fronarbeit kam es in Böhmen erst nach den demographischen Einbrüchen des Dreißigjährigen Krieges. Der ungarische Adel verlegte sich im Gegensatz zu seinen polnischen und böhmischen Standesgenossen weniger auf die Etablierung von Eigenwirtschaften als auf den Handel. Die Schollenbindung war in Ungarn seit dem Tripartitum von 1514/17 festgeschrieben, ohne in der Praxis streng exekutiert zu werden. Erst ab dem späten 16. Jh. kam es in Ungarn zu Frondiensten von zwei bis drei Tagen auf den Eigengütern des Adels.

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Gänzlich anders gelagert ist der russländische Fall. Hier führten demographische Einbrüche und die Ausbreitung des Dienstguts von der Mitte des 15. Jh. bis zur Mitte des 17. Jh. zur Ausbildung der L. Pestepidemien, Tatareneinfälle, Missernten und Kriege verursachten den Bevölkerungsrückgang und Wüstungsprozess in der Moskauer Rus. Die Moskauer Gesetzbücher von 1497 und 1550 erlaubten den Bauern, unter Erfüllung einiger Auflagen eine Woche vor und nach dem St. Georgstag abzuziehen. Die Schollenbindung setzte im Moskauer Russland ab den späten 1590er Jahren ein. Klöster und Adlige drängten darauf, entlaufene Bauern zurückzuführen. Die sog. Fristjahre, innerhalb derer Bauern gesucht und rückgeholt werden konnten, beliefen sich 1597 auf fünf und Anfang des 17. Jh. bereits auf 15 Jahre. Das Gesetzbuch von 1649 schaffte sie gänzlich ab und brachte damit die Schollenbindung zu ihrem rechtlichen Abschluss.

In dem Maß, in dem der Moskauer Großfürst und später Zar die Erfüllung der adligen Dienstpflicht durch die Ausgabe von Dienstgütern an seine Mannen gewährleistete, gab er auch die Bauern dem Adel preis. Die Adligen dienten dem Zaren bereitwillig und sahen zur Kompensation die L. als rechten und billigen Dienst der Bauern an.

Das Osmanische Reich stellt einen Kontrast zum Russländischen Imperium dar. Zwar gab es im Osmanischen Reich auch eine Gruppe von Dienstleuten. Der Staat teilte ihnen aber kein Land zu, sondern ermächtigte sie, Abgaben einzuziehen. Ab dem späten 16. Jh. traten Händler, administratives Personal und Militärs als Steuerpächter auf, die nach Rechten an Grund und Boden strebten. Jedoch blieb der Staat seinem Selbstverständnis nach stets Obereigentümer des Landes, und zudem anerkannte er keine Rechte Dritter an den Bauern. Es entwickelte sich somit keine persönliche Abhängigkeit der Bauern im Osmanischen Reich. Der Terminus L. greift daher in der osmanischen Agrargeschichte nicht. Die Fürstentümer Moldau und Walachei –unter osmanischer Oberhoheit stehend – bilden auf der Karte der L. eine Übergangszone zwischen der ostmitteleuropäischen L. in Polen, Böhmen und Ungarn und der Nichtexistenz des Phänomens im Osmanischen Reich. Das Motiv, die Bauern an die Scholle zu binden, lag in den beiden Fürstentümern im Steuersystem. Angesichts demographischer Einbrüche sollte die Bindung der Bauern die Steuerfähigkeit der Gemeinden gewährleisten. In der Beschränkung der bäuerlichen Mobilität ähnelt die Agrarverfassung der Fürstentümer dem Typus der L. Wie im Osmanischen Reich erhielten aber die Adligen keine weit reichenden Rechte an den Bauern. Machtpolitisch dominierten die von den Osmanen eingesetzten Woiwoden als Landesherren über die Adligen. Um die Steuerkraft des Landes zu erhalten, setzten die Woiwoden den adligen Ansprüchen an die Bauern Grenzen.

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3 Erscheinungsformen

L. lässt sich beschreiben als Konstellation, in der der Gutsherr dem Bauern als Grund-, Gerichts- und Leibherr in einer Person gegenübertritt und in der die bäuerlichen Rechte am Grund und Boden sowie auf Mobilität stark eingeschränkt oder ganz abgeschafft sind. Die Obrigkeit tritt dem Leibeigenen somit allein in Person des Gutsadligen (oder dessen Gutsverwalter) entgegen. Vor diesem allgemeinen Hintergrund lassen sich aber unterschiedliche Ausprägungen der L. erkennen. So haben die Adligen in Ostelbien, Livland und Polen ihre Eigenwirtschaften beträchtlich erweitert, indem sie Bauernland ihren Gütern zuschlugen und damit eine Masse landloser Tagelöhner schufen („Bauernlegen“). Dieses Phänomen ist der russländischen Agrarverfassung unbekannt. Für eine Typologie der Erscheinungsformen sind fünf Kriterien relevant:

1. Die Zugänglichkeit der Justiz reichte von einem unbedingten Appellationsrecht an staatliche Gerichte in Holstein, Brandenburg und Livland in der schwedischen Epoche über ein bedingtes Klagerecht, das Bauern in Mecklenburg aus Gewohnheit praktizierten, bis hin zum völligen Fehlen des Klagerechts für Leibeigene in Polen und Russland.
2. Das bäuerliche Besitzrecht verschlechterte sich allgemein unter der L. Bauern in Polen, Livland und Russland verloren in der L. den Status des Erbpächters. Die Nutzung des Bodens konnte ihnen gekündigt werden. Den Bauern in Livland und Russland blieb jedoch das Los des Bauernlegens erspart.
3. Das Ausmaß der Fron variierte in ganz Osteuropa stark. Betrug sie in den Fürstentümern Moldau und Walachei einen Tag pro Woche, waren es in Polen im 17. und 18. Jh. vier bis fünf Tage in der Woche. In Russland hat Zar Pavel I. 1797 die Fron auf drei Tage pro Woche begrenzt. Es sind aber höhere Frondienste belegt.
4. Allein in Russland entstand ein regelrechter Markt für den Handel mit Leibeigenen.
5. Von den Ausnahmen Polen und Mecklenburg abgesehen war es den Gutsadligen untersagt, an Leibeigenen die Todesstrafe zu vollziehen. Auf den polnischen Gütern soll es aber nicht zu Hinrichtungen gekommen sein, während von russischen Gutsadligen berichtet wird, dass sie Leibeigene ermordeten.

Anhand dieser fünf Kriterien ergibt sich eine Typologie von drei Ausprägungen – nämlich der Erbuntertänigkeit, der L. und der extremen L. Dabei bilden Ostholstein und Brandenburg im Westen die Region der Erbuntertänigkeit. Dort sicherte der Absolutismus den Leibeigenen ein Klagerecht gegen ihre Gutsherren. Höchstens 20 % der Bevölkerung waren leibeigen. Tätigkeiten auf eigene Verantwortung waren in der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Vergleich zu den anderen Gesellschaften, die die L. kannten, hoch. Mecklenburg, Polen und Livland stellen das Gebiet der L. dar, in dem die Dominanz des Adels den Bauernschutz erheblich abminderte und das bäuerliche Klagerecht nicht gesichert war. Russland steht für die extreme L., in der der Zugriff der Gutsadligen auf die Leibeigenen am schärfsten und die Verrechtlichung sozialer Beziehungen am niedrigsten war. Die Fron betrug teilweise sechs Tage in der Woche.

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4 Alltag, Mentalität und Widerstand

Leibeigene arbeiteten in verschiedenen Funktionszusammenhängen, aus denen sich unterschiedliche Alltagsgeschichten ergeben. In Russland z.B. teilt sich die Gruppe der Leibeigenen in diejenigen, die Zins zahlten, und diejenigen, die Fron auf den Herrengütern leisteten. Erstere hatten gewisse Freiräume in der Wanderarbeit wie auch in Handel und Gewerbe. Neben dieser gewichtigen Differenzierung dürfen andere, die quantitativ nicht so stark ins Gewicht fallen, nicht übersehen werden. Manche Leibeigene hatten ihren Adligen im Herrenhaus zu dienen. Wenige hatten das Glück, von ausgesprochen reichen Herren mit mäzenatischer Ader zu künstlerischer Tätigkeit in Malerei, Musik oder Theater auf dem Gut abgestellt zu werden. Andere waren in Manufakturen ihrer Herren beschäftigt. Die Alltagsgeschichte der Leibeigenen geht also nicht allein in der Geschichte der bäuerlichen Welt auf, zumal es neben leibeigenen Gutsbauern auch persönliche freie Bauern auf Kron- und Staatsdomänen gab. Nichtsdestoweniger bestimmten das Dorf und die Landwirtschaft den Alltag der meisten Leibeigenen.

Arbeiten zur sozialen Kontrolle im russischen Dorf haben den Befund zweier normativer Welten erhoben. Zwar verfolgten die Gutsbesitzer das Ziel, ihre Bauern sozial zu disziplinieren und sie ihren westlich geprägten Normen zu unterwerfen. Gleichwohl blieben bäuerliche Rechtsvorstellungen intakt, die sich vielfach nicht mit denen der Obrigkeit deckten. In Russland z. B. gehörte die Aufnahme von Läuflingen zum Selbstverständnis bäuerlicher Gastfreundschaft. Die Normen des Zarenstaates dagegen verlangten die Rückführung entlaufener Leibeigener. Dass der Staat das Läuflingswesen tolerierte, weil es u. a. die kosakischen Grenztruppen im Süden stärkte, und dass reiche Gutsadlige gerne die Läuflinge ihrer ärmeren Standesgenossen aufnahmen, steht auf einem anderen Blatt.

Die Fachliteratur hat häufig das Verdikt der Rückständigkeit über die russische Agrarwirtschaft ausgesprochen. Freilich führte die Gutswirtschaft, die mit Leibeigenen arbeitete, nicht zu Intensivierung und Innovation. Aus Sicht der Leibeigenen wäre dies aber auch fatal gewesen. Denn die Steigerung der Produktivität hätte das Ansteigen gutsherrlicher Forderungen an die Leibeigenen nach sich gezogen. Stagnierende Erträge lagen mithin im Kalkül der Leibeigenen. Davon abgesehen zielte bäuerliches Wirtschaften generell auf das Überleben des Haushalts und der Familie, nicht auf Profit. Die Landumteilungen in den russischen Dorfgemeinden folgten einem Gerechtigkeitsideal. Jeder sollte mit dem Land ausgestattet werden, das nötig war, um die eigene Existenz fristen und die Abgaben an Staat und Gutsherr leisten zu können.

Leibeigene kannten eine weit gefächerte Palette von Handlungsoptionen, um sich den Zumutungen der L. partiell oder ganz zu entziehen oder sogar offenen, gewaltsamen Widerstand zu leisten. Dabei lassen sich sechs Handlungsmuster unterscheiden:

1. Den Boykott gutsherrlicher Anweisungen praktizierten Leibeigene v. a., indem sie die Arbeiten auf den Feldern des Herrn Kräfte sparend ausführten oder auch ersatzweise ihre Kinder dazu abordneten.
2. In Eingaben an höhere Stellen klagten Bauern über drückende Steuerlasten und Fronpflichten mit dem Ziel, eine Reduzierung zu erreichen.
3. Klagen vor Gericht stellten ein weiteres Mittel dar, um die Verbesserung des eigenen Loses zu erwirken. Dies setzte die Zugänglichkeit der staatlichen Justiz voraus, die die Leibeigenen Polens und Russlands verloren hatten.
4. Gewalt konnte sich aus kleinen Alltagskonflikten entwickeln und z. B. zum Totschlag von Gutsaufsehern führen.
5. Die Flucht kam in aller Regel für vergleichsweise besser situierte Leibeigene in Frage, setzte sie doch voraus, dass man am Zielort der Flucht eine neue Existenz zunächst allein auf den eigenen Mitteln aufbauen musste. Eine regelrechte Läuflingsbewegung kannte nur Russland.
6. Der Aufstand stellt die äußerste Form des Widerstands dar. Die vier großen Aufstände in der russländischen Frühneuzeit dürfen jedoch nicht allein als Bauernaufstände verstanden werden. An ihnen partizipierte eine Vielfalt von Akteuren –verarmte Dienstleute, Kosaken, Altgläubige u. a.

Bush M. L. 1996: Serfdom and Slavery. Studies in Legal Bondage. London. Goehrke C. 1969: Leibeigenschaft, Kernig C. D.: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft: eine vergleichende Enzyklopädie 3. Freiburg, 1399–1410. Schmidt C. 1997: Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie. Köln. Sundhaussen H. 1990: Der Wandel in der osteuropäischen Agrarverfassung während der frühen Neuzeit, Südost-Forschungen 49, 15–56. Ursprung D. (in Druck): Schollenbindung und Leibeigenschaft. Zur Agrarverfassung der Fürstentümer Walachei und Moldau in komparativer Perspektive (= Südost-Forschungen)

(Martin Aust)

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