Kvitka, Klyment Vasylovič

Kvitka, Klyment Vasylovič (ukrain., russ. K., Kliment Vasilʹevič); *4.2.1880 Chmeliv (Gebiet Sumy, Ukraine) †19.9.1953 Moskau.

K. gilt neben Evgenij V. Gippius (1903–85) als der bedeutendste Vertreter der Ethnomusikologie in der Sowjetunion. Bereits mit 16 Jahren widmete er sich der Aufzeichnung von Volksmusik. Parallel zu seinem 1902 abgeschlossenen Jurastudium an der Universität Kiew absolvierte er die Philologische Fakultät. K. schlug zunächst eine juristische Laufbahn ein, 1920 wurde er in die Ethnographische Kommission der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen, wo er 1922 eine eigene Abteilung für Musikalische Volkskunde ins Leben rief. Den sich verschärfenden Repressionen gegen ukrainische Intellektuelle konnte er sich 1933 nur durch seine Flucht über Kasachstan nach Moskau entziehen, wo er am Konservatorium eine Lehrtätigkeit begann.

Dort gelang es ihm unter widrigen Umständen das „Kabinett zur Erforschung des Musikschaffens der Völker der UdSSR“ (russ. Kabinet po izučeniju muzykalʼnogo tvorčestva narodov SSSR, seit 1998 heute „Lehr- und Forschungslaboratorium für Volksmusik“ (russ. Učebno-naučno laboratoriju narodnoj muzyki) einzurichten. Anfänglich durch die Theorien Petro Sokalʹsʹkyjs (1832–87) beeinflusst, wandte sich K. in vielem jedoch schon früh von den evolutionistischen Konzepten seiner Zeit ab, so wies er bereits Mitte der 1920er Jahre die Vorstellung von der europäischen Volksmusik als einer „Vorstufe“ der Kunstmusik ebenso zurück wie die Theorie vom höheren Alter der Pentatonik gegenüber der Diatonik.

Ein Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf der methodisch fundierten Dokumentation traditioneller Musikkulturen (über 6000 eigene Liedaufzeichnungen). Sein Plan für die umfassende Erforschung der fahrenden Musiker in der Ukraine setzte neue Maßstäbe für die Methodik der Feldforschung. Bei der Strukturanalyse und der genetischen Interpretation der ostslawischen Brauchtumslieder legte er besonderes Gewicht auf die rhythmische Struktur – im Gegensatz zu der von Boris V. Asafʹev (1894-1949) und Gippius geprägten Petersburger Schule, die mehr das Melos betont.

Besondere Verdienste erwarb sich K. um die Erforschung der russischen instrumentalen Volksmusik, besonders der südrussischen Panflötenmusik sowie der Doppelflöte im Grenzgebiet zu Weißrussland. Daneben hatte der Forscher auch zahlreiche nichtslawische Musikkulturen im Blick, ebenso wie er (im Rahmen der in der Sowjetunion gegebenen Möglichkeiten) die internationale Entwicklung des Faches kritisch verfolgte. K.s Schriften sind geprägt von methodischer Strenge und nüchterner Zurückhaltung. In der Genauigkeit der Beobachtung, dem Blick auf den funktionalen Kontext der Musik und auf die ästhetischen Konzepte seiner Gewährsleute war er der Forschung seiner Zeit weit voraus.

Zu den tragischen Seiten von K.s Biographie gehört der frühe Tod seiner Ehefrau, der Dichterin Larysa Kosač-Kvitka (Lesja Ukrainka, 1871–1913), der Verlust zahlreicher Fachkollegen während der stalinistischen Repressionen und nicht zuletzt der Massenmord an den fahrenden Drehleierspielern in den 30er Jahren. Seinen Zeitgenossen ist K. als ein Gelehrter von außergewöhnlicher Überzeugungskraft, gleichzeitig von persönlicher Bescheidenheit sowie von unbedingter moralischer Integrität in schwierigsten Zeiten in Erinnerung geblieben.

Gošovskij V. L., Bogatyrʹ G. (Hg.) 1971–73: . Kvitka, Izbrannye trudy v dvuch tomach. Moskva.

(Ulrich Morgenstern)

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