Kleinrussen

Kleinrussen (russ. malorossy, auch: malorussy; ukrain. malorosy bzw. malorusy)

Der Begriff K. leitet sich ab von der Bezeichnung „Kleine Rus“ oder „Kleinrussland“ (griech. Mikra Rōsia, russ./ukrain. Mala oder Malaja Rusʹ bzw. Ros[s]ija, später Maloros[s]ija). Diese verlieh Byzanz der 1303 errichteten autonomen Kirchenprovinz des Metropoliten von Halyč (Ukraine) und unterschied sie damit von der „Große Rus“ oder „Großrussland“ (griech. Megalē Rōsia) bezeichneten Moskowiter Metropolie. Während dieser Begriff im 15. und 16. Jh. kaum mehr im Gebrauch war, entdeckten ihn orthodoxe Kleriker der ukrainischen Gebiete in der ersten Hälfte des 17. Jh. von neuem. Nach der 1654 erfolgten Inkorporation der linksufrigen Ukraine in das Moskauer Zartum sowie insbesondere nach der Aufnahme der Bezeichnung „Kleinrussland“ in den Titel des russischen Zaren, kam er verstärkt in Umlauf, bezog sich fortan allerdings nur noch auf das unter Moskauer Hoheit stehende ukrainische Territorium.
Der Begriff K. findet sich hingegen in den Quellen bis zum 17. Jh. noch selten. Im 18. Jh. taucht er wiederholt in der Gegenüberstellung zu den „Großrussen“ auf, koexistiert aber bis zum Ende des 18. Jh. mit Selbstbezeichnungen wie „Ukrainer“, „Zaporoger“ (russ. Zaporožcy, in Bezug auf das Kosakenzentrum Zaporizʹka Sič), Kosaken und „Kleinrussländern“ (russ. malorossijane, ukrain. malorosijane) sowie mit der von russischer Seite eingebrachten, negativ konnotierten Bezeichnung ›Mazepincy‹ (nach Ivan S. Mazepa, dem Kosaken-Hetman). Im 19. Jh. war der Begriff K. in allen offiziellen russischen Dokumenten und in der russischen Gesellschaft allgemein vorherrschend.

Eine kleinrussische (ukrainische) Identität hatte sich schon im frühen 17. Jh. im Kreise orthodoxer Geistlicher der Kiewer Metropolie sowie später innerhalb der Kosaken-Elite des Hetmanats herausgebildet. Institutioneller Ausdruck dieser Identität waren die sog. „kleinrussischen Rechte und Freiheiten“, die u. a. die freie Wahl eines Metropoliten wie Hetmans sowie die Wahrung der eigenen Gerichtsbarkeit innerhalb der Kirche und des Hetmanats vorsahen. Mit der Abschaffung des Kosaken-Hetmanats und der rechtlichen Angleichung an die Verhältnisse in Zentralrussland unter Katharina II. wurde dieser kleinrussischen Identität allmählich die Basis entzogen. Sie hielt sich bis in die 30er und 40er Jahre des 19. Jh. im kulturell definierten Selbstverständnis einer schmalen Elite, die v. a. aus Nachfahren der höheren Geistlichkeit und oberen Schicht der Kosaken bestand und in der Pflege lokaler Sitten und Gebräuche sowie der Niederschrift von Orts- und Familiengeschichten zum Ausdruck kam.

Mitte des 19. Jh. machte das Aufkommen eines politischer angelegten ukrainischen Identitätsentwurfes dem kleinrussischen Selbstverständnis Konkurrenz. Anhänger dieser neuen Ausrichtung, die sich um Schriftsteller und Intellektuelle wie Taras H. Ševčenko und Mykola I. Kostomarov scharten, knüpften zwar an das kulturelle und historische Bewusstsein der K. an, verbanden jedoch deren elitäres Selbstverständnis mit der Sprache und Kultur der Bauern. Unter den Bedingungen des repressiv agierenden Zarenregimes, das im Zuge der russischen Nationsbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jh. den Druck der ukrainischen Sprache verbot und jegliche Ukrainophilie ahndete, formulierten Anfang des 20. Jh. nur wenige radikale Anhänger des ukrainischen Identitätskonzepts den Anspruch auf eine ausschließlich „ukrainische“ Identität mit Anspruch auf politische wie territoriale Eigenständigkeit. Die meisten Ukrainophilen wünschten weiterhin Teil des Russischen Reiches zu bleiben, forderten jedoch kulturell wie politisch erhebliche Zugeständnisse ein.
Anhänger des ausschließlich kulturell definierten kleinrussischen Identitätsverständnisses bekannten sich demgegenüber zur allrussischen Identitätskonzeption. Nach dieser Vorstellung, die sich gegen Mitte des 19. Jh. durchsetzte, bildeten die K. bloß einen Zweig einer einzigen russischen Nation, so wie das Kleinrussische (Ukrainische) nur einen Dialekt des Russischen. Damit bot das kleinrussische Identitätsverständnis zwar anfänglich eine wichtige Stütze für die ukrainische Nationalbewegung. Doch aufgrund der Bereitschaft seiner Anhänger, neben einer regional-definierten kleinrussischen eine allrussisch-nationale Identität zu favorisieren, entpuppte sich diese Konzeption mit der Zeit als Hindernis für eine ukrainische Nationsbildung.

Im Laufe des 19. Jh. weitete sich der Begriff K. auf alle ukrainischsprachigen Einwohner der russisch beherrschten Gebiete östlich wie westlich des Dnjepr aus, während Bezeichnungen wie „Ukraine“ oder „Ukrainer“ aufgrund ihrer politischen Konnotationen von offizieller Seite untersagt waren. In den Augen nationalbewusster Ukrainer gewann die Bezeichnung jedoch aufgrund der sprachlichen Gegenüberstellung von „Klein“- und „Großrussen“ eine herablassende, pejorative Bedeutung. Anfang des 20. Jh. bezeichneten sich daher meist nur noch diejenigen als K., welche die ukrainische Nationalbewegung dezidiert ablehnten und mit einer allrussischen Identität sympathisierten. Nach der Revolution von 1917 und der Gründung einer autonomen, anschließend unabhängigen Ukraine geriet die Bezeichnung außer Gebrauch und bewies damit ihren – zumindest für das späte Zarenreich – politisch instrumentalisierten Charakter.

Kappeler A. 2003: Mazepintsy, Malorossy, Khokhly: Ukrainians in the Ethnic Hierarchy of the Russian Empire. Kappeler A., Kohut Z. E., Sysyn F. E., Hagen M. von (Hg): Culture, Nation, and Identity. The Ukrainian-Russian Encounter (1600-1945). Edmonton, 162-181. Kohut Z. E. 1986: The Development of a Little Russian Identity and Ukrainian Nationbuilding. Harvard Ukrainian Studies 10, Nr. 3/4, 556–576. Solovʹev A. 1947: Velikaja, Malaja i Belaja Rusʹ. Voprosy Istorii 7, 24–38.

(Ricarda Vulpius)


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