Merja

Merja. Die M. werden den finnougrischen Völkern zugezählt. Sie wurden vermutlich im 10. oder 11. Jh. durch slawische Stämme assimiliert. Die Existenz und Geschichte der M. ist nur anhand von Chroniken rekonstruierbar, die Sprache allein durch Ortsnamen belegt. Ihr Siedlungsgebiet umfasste den „Rostower“ (russ. Rostovskoe ozero, auch: ozero Nero) und „Pereslavlʹ“-See (russ. Pereslavskoe bzw. Pleščeevo ozero) an der oberen Wolga, nördlich des heutigen Moskau bei Jaroslavlʹ. Nördlich der M. lebten die Stämme der ›Čudʹ‹ (russ.), nordöstlich die Permier (die Vorfahren der heutigen Komi und Udmurten), im Osten die Mari, im Süden ›Meščera‹, ›Mordva‹ (Mordwinen) und ›Muroma‹, im Südwesten baltische Stämme und im Westen und Nordwesten die Wepsen. Ihre nächsten Nachbarn waren, laut der Nestorchronik, die ›Muroma‹ und ›Ves’‹ (Wepsen). Bei Jordanes (›Getica‹, um 550) werden die M. unter der Bezeichnung merens zum ersten Mal in Verbindung mit den Stämmen aufgeführt, die dem König der Ostgoten, Ermanarich († 375), unterworfen waren. In Adam von Bremens ›Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificium‹ (11. Jh.) wird der Name ›mirri‹ erwähnt, mit dem mit großer Wahrscheinlichkeit die M. gemeint waren.

Aus den mittelalterlichen russischen Chroniken ist bekannt, dass die M. den Warägern 859 n. Chr. abgabenpflichtig waren und dass sie 862 am Kampf gegen die Waräger teilgenommen haben. 882 n. Chr. zogen sie gemeinsam mit dem Fürsten Oleg nach Kiew, der dort den Norden (Novgorod) und den Süden (Kiew) der Rus zu einem lockeren Herrschaftsverbund zusammenfügte. 907 n. Chr. nahmen sie an Olegs Feldzug gegen Konstantinopel teil. Danach werden die M. in den Chroniken nicht mehr erwähnt. Wohl aber sind bis in das 16. Jh. Ortsnamen überliefert, die auf die M. hindeuten. Auf die Existenz der M. als selbständige Ethnie lässt sich daraus allerdings nicht schließen. Archäologische Funde aus dem Siedlungsgebiet der M. zeigen, dass dort verschiedene Kulturen existiert, zumindest ihre Spuren hinterlassen haben; die Funde (v. a. Gebrauchsgegenstände, Schmuck, Waffen und Geldmünzen) stammen von den Wolgabulgaren, Warägern und slawischer Bevölkerung. Die wahrscheinliche Slawisierung der M. lässt sich an Änderungen im Bestattungsritus nachvollziehen, so in der Übernahme des für ostslawische Stämme charakteristischen Hügelgrabes im Laufe des 11. Jh. Die dem Grab beigelegten Gegenstände können dem Kulturkreis der Rus zugeordnet werden. Ende des 19. Jh. versuchten russische Forscher eine Verbindung zwischen der Selbstbezeichnung der Mari und dem überlieferten Namen der M. herzustellen, um daran die Zusammengehörigkeit beider Völker zu belegen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Theorie war besonders intensiv in der Mitte des 20. Jh. Heute geht die Forschung davon aus, dass die M. eine eigenständige Ethnie und nicht identisch mit den Mari waren, auch wenn beide Völker durch ihre geographische Nähe zweifellos miteinander in Verbindung standen. Wie die überlieferten Toponyme zeigen, stand die Sprache der M. dem Ostsee-Finnischen wahrscheinlich sogar näher als dem wolga-finnischen Mordwinisch oder Mari.

Décsy Gy. 1965: Die Merier und Muromer. Ders. (Hg.): Einführung in die finnisch-ugrische Sprachwissenschaft. Wiesbaden, 146–49. Klima L. 2000: A merják és a muromák története. Nanovfszky Gy. (Hg): Nyelvrokonaink. Budapest, 89–90. Pogodin A. 1933: Was ist Merja? Liber semisaecularis Societas Fenno-Ugricae. Helsinki, 326–30. Ravila P. 1937: Das Merja-problem im lichte der ortsnamenforschung. Finnisch-Ugrische Forschungen 24, 10–17. Ravila P. 1940: Polemik. Merja und Tscheremissen. Finnisch-Ugrische Forschungen 26, 19–26. Tkačenko O. B. 1985: Merjanskij jazyk. Kiev. Winkler E. 2002: Merja. Okuka M. (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt, 959–60.

(Cathrin Kreutzer)


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