Narva (Stadt)

Narva (estn./ russ., dt. hist. Narwa).

Inhaltsverzeichnis

1 Geographie

Mit 66.712 (2006) Einwohnern ist N. die drittgrößte Stadt Estlands. 84,4 % der Bevölkerung sind Russen, 3,9 % Esten, 2,6 % Ukrainer und 2,3 % Weißrussen. 40,9 % (2003: 36,3 %) der Narvenser besitzen die estnische Staatsbürgerschaft, 31,2 % (29,2 %) sind Bürger der Russischen Föderation, 26,3 % (27,3 %) sind staatenlos (Stand 2004).

N. liegt am Westufer des Flusses Narva, 14 km südlich der Mündung in den Finnischen Meerbusen, an der Grenze zur Russischen Föderation. Die Fläche der Stadt beträgt 84,54 km², davon ist ein Drittel Wasser (Fluss und Stausee). Das Klima ist gemäßigt, wobei die Küstenlage Estlands die Niederschläge im Frühjahr bedingt; die durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt 548 mm. Die zugefrorene Ostsee sorgt für kalte Winter. Die durchschnittlichen Temperaturen liegen im Januar bei -3,1 °C und im Juli bei 19,9 °C.

N. bildet historisch gesehen eine Einheit mit dem am Ostufer gelegenen russischen Ivangorod (estn. Jaanilinn, gegr. 1492; 1648–1945 Teil N.s). Nach dem Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört, wurde die traditionsreiche Festungs-, Hafen- und Textilindustriestadt zum Zentrum der Energieproduktion im Nordwesten der UdSSR ausgebaut. Bis heute stellt die Transformation des einseitig auf Energiegewinnung und Textilproduktion ausgerichteten Wirtschaftssektors die Stadt vor große soziale Probleme. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 8,2 % (Stand 1.7.2005; Estland 3,2 %), der Bruttolohn betrug 2002 nur 75 % des estnischen Durchschnitts. Die Nutzung von Ölschiefer zur Energiegewinnung verursacht erhebliche Umweltschäden. Der Dienstleistungssektor ist unterentwickelt. Die Rolle N.s. für den Transit zwischen Tallinn (212 km entfernt) bzw. der EU und St. Petersburg (150 km) wächst, geplant ist die Errichtung einer neuen Brücke über den Fluss, um den Grenzverkehr aus dem Stadtzentrum zu verlagern. Der Hafen bedient im begrenzten Umfang den sich langsam entwickelnden Segeltourismus.

In Narva gibt es ein modern ausgestattetes Berufschulzentrum sowie das pädagogisch ausgerichtete „Narva Kolleg“ (Narva Kolledž) der Universität Tartu. Es gibt kein Kino und kein Theater in der Stadt, doch kooperiert das Laientheaterstudio ›Ilmarine‹ mit dem Kulturzentrum ›Rugodiv‹. Seit 2004 wird alljährlich ein Europäisches Filmfestival ausgerichtet. Neben dem in der Hermannfeste beheimateten Stadtmuseum existieren eine Kunstgalerie sowie das städtische Symphonieorchester. Das Chopin-Festival führt seit 1997 junge Pianisten aus aller Welt in die Stadt.

2 Kulturgeschichte

Als Wahrzeichen der Stadt gilt die aus dem 13. Jh. stammende Hermannsfeste (estn. Hermanni linnus) dänischen Ursprungs, der auf dem Ostufer des Flusses N. die russische Burg Ivangorod (15./16. Jh.) gegenübersteht. In N. sind weiterhin die in der 2. Hälfte des 17. Jh. errichteten schwedischen Bastionen (Erik Dahlberg) erhalten. Aus derselben Zeit stammte die Altstadt, die sog. Perle des Ostsee-Barocks, die 1944 durch sowjetische Bombenangriffe und deutsche Sprengkommandos zerstört wurde. Erhalten blieb das Rathaus (1665–71), das zu sowjetischer Zeit als Pionierpalast diente.

Erstmals erwähnt wurde N. unter seiner russ. Bezeichnung ›Rugodiv‹ in der ostslawischen Chronistik unter dem Jahr 1171. Dänischen Quellen zufolge befand sich zu Beginn des 13. Jh. am Ufer des Flusses N. die Siedlung ›Narvia‹. Die wohl Mitte des Jahrhunderts errichtete Festung fand 1277 erstmals urkundlich Erwähnung. 1345 erhielt N. vom dänischen König Waldemar IV. das Lübecker Stadtrecht; gleichzeitig wurde es mit ganz Nordestland an den Deutschen Orden verkauft. Ns. Lage ließ es vom Russlandhandel profitieren, doch führte die Rivalität mit Reval (heute estn. Tallinn) dazu, dass es nie Mitglied der Hanse wurde. Zu einem der wichtigsten Umschlagsplätze im Ost-West-Handel wurde N., als es während des Livländischen Kriegs unter russischer Herrschaft (1558–81) stand. Unter schwedischer Herrschaft setzte sich die Handelskonkurrenz mit Reval fort, doch erlebte N., dem 1585 schwedisches Stadtrecht verliehen worden war, in der zweiten Hälfte des 17. Jh. eine wirtschaftliche Blüte, die die Stadt fast zur zweiten Hauptstadt Schwedens gemacht hätte.

Im Nordischen Krieg nach fehlgeschlagener Belagerung während der Schlacht von Narva (1700) von Russland 1704 erobert, gehörte N. 1719–1917 zum St. Petersburger Gouvernement. Während N.s Rolle als wichtiger Ostseehafen im Laufe des 18. Jh. schwand, profitierte die Stadt von der Industrialisierung Russlands im 19. Jh. Die Baumwollmanufaktur Kreenholm (1857) errang Weltruf, N. wurde zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung. Mit dem Bau der Eisenbahn Tallinn St. Petersburg 1870 ist die Entwicklung N.-Jõesuus (russ.: Ustʹ Narva; dt. hist. Hungerburg) an der Flussmündung zum Kurort verbunden.

1913 waren von 21.039 Einwohnern Ns. 58,1 % Esten und 34,6 % Russen (1922: 26.124, 67 %, 28,2 %; 1934 23.512 64,8 %, 29,7 %). Nachdem während des estnischen Unabhängigkeitskriegs im November 1919 die kurzlebige „Estnische Arbeiterkommune“ als Keim eines sowjetischen Estlands in N. gegründet worden war, gehörte die Stadt bis zur sowjetischen Okkupation 1940 zur unabhängigen Republik Estland. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich auf Industrieanlagen und Wohnraum. Dabei kam es auch zu einem „Bevölkerungsaustausch“, da den noch von den Deutschen evakuierten Einwohner der Zuzug nach 1944 administrativ verwehrt wurde. Z. T. geschah dies aus „Sicherheitsgründen“, da geplant war, die sowjetische Uranproduktion in N. zu konzentrieren. Seither ist N. eine überwiegend Russisch sprechende Stadt.

Hansen H. J. 1858: Geschichte der Stadt Narva. Dorpat. Karling S. 1936: Narva. Eine baugeschichtliche Untersuchung. Stockholm. Brüggemann K. (Hg.) 2004: Narva, Russia and the Baltic Sea Region. Borders, Contacts and Identities in Peace and War. Narva. http://www.investinnarva.ee/main.php/mod/site/act/nav/id/158 [Stand 31.8.2005]. http://www.narva.ee [Stand 31.8.2005].

(Karsten Brüggemann)


Views
bmu:kk