Tadschiken

Tadschiken (tadsch. toǧik, pl. toǧikon)

Das Volk der T. ist die Titularnation der Republik Tadschikistan (1924–29 Tadschikische ASSR, 1929–91 Tadschikische SSR). In Tadschikistan bilden die T. mit rund 4,34 Mio. von ca. 6,9 Mio. Menschen die Mehrheit der Republikbevölkerung (64,9 %). In Usbekistan leben nach offiziellen Angaben knapp 1,3 Mio. T., in Afghanistan ca. 7,2 Mio., kleinere Gruppen als Minderheiten in den übrigen mittelasiatischen Staaten. Diese Zahlen sind jedoch nur Schätzwerte. Überwiegend sind die T. sunnitische Muslime der hanafitischen Rechtsschule.

Die T. gelten als Nachfahren der iranisch-sprachigen „Ureinwohner“ Mittelasiens, namentlich der Sogdier, und somit als das älteste Volk Mittelasiens. Sogdiana ist eine antike Bezeichnung für Transoxanien, das Gebiet zwischen den Flüssen Syrdarja und Amudarja, das heute im Wesentlichen zu Usbekistan gehört. Die tadschikische Nationalgeschichtsschreibung geht davon aus, dass sich das tadschikische Ethnos im 9./10. Jh. während der Herrschaft der iranischen Samaniden-Dynastie in Transoxanien formiert habe. Das Samanidenreich gilt somit als erster tadschikischer Staat und seine Zentren Buchara und Samarkand als Wiegen der tadschikischen Kultur. Transoxanien war in seiner Geschichte wiederholt Eroberungen unterworfen. Zu den Eroberern, die tiefe Spuren in der Region hinterlassen haben, gehören die Araber, die im 8. Jh. den Islam nach Mittelasien brachten, die mongolischen Dschingisiden (13. Jh.), die usbekischen Šaybānīden (16. Jh.) und schließlich das russische Imperium (19. Jh.). Die Herrscherdynastien der Reiche in Transoxanien nach den Samaniden waren zumeist türkisch-nomadischen Ursprungs. Das Zarenreich verleibte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Mittelasien schrittweise ein und organisierte seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich administrativ im Generalgouvernement Turkestan. Das Emirat Buchara und das Khanat Xiva blieben als formell selbständige Protektorate bestehen. Nach der Gründung der Sowjetunion wurden 1924 die bestehenden staatlich-administrativen Strukturen in Zentralasien aufgelöst und durch ethnisch definierte Sowjetrepubliken ersetzt. Die T. erhielten nun eine autonome Republik. Nach der Auffassung der tadschikischen Nationalgeschichte bedeutet diese historische Entwicklung, dass sich die T. von der Samanidenzeit bis 1924 fortwährend unter Fremdherrschaft und im Zustand der Unterdrückung befanden und erst mit der Einrichtung der Republik Tadschikistan erstmals seit dem 10. Jh. wieder einen eigenen Staat erhielten. Aus dieser autonomen Republik ist die heute selbständige Republik Tadschikistan hervorgegangen. Das von der tadschikischen Nationalbewegung als historisch tadschikisch beanspruchte Gebiet, das nach ihrer Auffassung auch in den 1920er Jahren vorwiegend von T. bewohnt wurde, gehörte allerdings nicht zu der 1924 gegründeten Republik. Diese wurde aus dem zum Generalgouvernement Turkestan gehörenden östlichen Pamirgebirge und dem sog. Ost-Buchara zusammengefügt.

Es ist auffällig, dass die von der tadschikischen Nationalbewegung beanspruchten historisch tadschikischen Gebiete ebenfalls von der usbekischen Nationalbewegung beansprucht werden und 1924 wie heute in Usbekistan liegen. Diese Überschneidung gilt auch für historische Persönlichkeiten wie beispielsweise den mittelalterlichen Arzt und Gelehrten Avicenna. Ohne einen Bezug zur usbekischen Nationalbewegung sind die tadschikische Nationalbewegung und die moderne Begriffsbildung ›toğik‹ nicht zu verstehen. Die tadschikische Nationalgeschichte beschreibt die Usbeken als die stärksten Unterdrücker des tadschikischen Volkes in jüngerer Zeit. Die Schaffung der ethnisch definierten Republik galt tadschikischen Nationalisten zwar als bedeutender Schritt, der aber die Unterdrückung des tadschikischen Volkes durch türkische Fremdherrscher nicht beenden konnte. Tadschikistan war bei seiner Gründung als autonome Republik Bestandteil Usbekistans. Die tadschikische politische Elite klagte über einen starken Usbekisierungsdruck von Seiten der usbekischen Regierung, sah die Fortexistenz des tadschikischen Volkes sowie der tadschikischen Sprache und Kultur gefährdet und forderte den Anschluss der historisch tadschikischen Gebiete an die Republik Tadschikistan. 1929 wurde Tadschikistan in den Status einer Sowjetrepublik erhoben und um das Gebiet Chuğand (1936 –91 Leninabad) erweitert. Damit wurden die Ansprüche der tadschikischen Nationalisten aber nur teilweise erfüllt, da Samarkand und Buchara in Usbekistan verblieben. Die in den offiziellen Volkszählungen ermittelten Anteile tadschikischer Bevölkerung in Usbekistan waren und sind nach Aussage tadschikischer Aktivisten um ein Vielfaches zu niedrig. Die sowjetische Regierung unterdrückte die Äußerung entsprechender Forderungen seit den dreißiger Jahren; Die Zwänge der sowjetischen Völkerfreundschaftsdoktrin führten zu euphemistischen Versionen. So war etwa von der Entwicklung der tadschikischen Kultur in engem Kontakt mit verschiedenen Turkvölkern und von Turkisierungsprozessen der T. die Rede. Erst seit der Perestroika Mitte der 1980er Jahre wurden die Forderungen wieder unverblümt erhoben. Damit setzte auch die Konkurrenz um die Vereinnahmung der Geschichte wieder ein.

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Beide Nationalbewegungen werten historische Termini um und projizieren ihre moderne Bedeutung zurück. Der Begriff ›tāğīik‹ war im 10. Jh. keineswegs ein Ethnonym, sondern bezeichnete in Zentralasien Vertreter islamischer Religion und Kultur, hauptsächlich iranischsprachige Oasenbewohner (im Gegensatz zu den türkischsprachigen Nomaden der Steppengebiete). Bis in die 1920er Jahre war der Begriff –gemeinsam mit „Sart“ –als Bezeichnung für die muslimische, sesshafte, nicht-tribale Bevölkerung Mittelasiens gebräuchlich und bezeichnete somit in Abgrenzung von den Nomaden eine sozio-kulturelle Kategorie. Große Teile der Bevölkerung in Transoxanien waren und sind zweisprachig; die Sprache war kein ethnisches Kriterium, sondern verschiedenen Lebensbereichen zugeordnet. So war z. B. türkisch die Sprache des Militärs, persisch hingegen die der staatlichen Verwaltung. Die russische Kolonialverwaltung machte aus den Begriffen Sarten und T. unter Ignorierung der Zweisprachigkeit ethno-linguistische Kategorien, wobei sie wesentlich mehr Türkisch- als Tadschikischsprecher registrierte. Veröffentlichungen für die einheimische Bevölkerung erschienen in türkischer Sprache (Turkī), z. B. die Zeitung „Turkistān Viloyatining Gazeti“. Im Emirat Buchara hingegen spielte trotz der Zuordnung der Herrscherdynastie zur türkischsprachigen Welt das Persische die bedeutendere Rolle als Sprache des Staates und seiner Verwaltung. Zu Beginn des 20. Jh. dominierte der Turkismus die Anfänge nationaler Selbstvergewisserung in Mittelasien. Nach dem Sturz des Zaren strebten autochthone Aktivisten in Turkestan die Gründung einer Republik der Turkvölker an. Die mit Hilfe der Roten Armee in Buchara an die Macht gelangten jungbucharischen Revolutionäre erhoben anstelle der als rückständig empfundenen persischen Kanzleisprache des Emirats nun „Türkisch“ zur Sprache der neuen Volksrepublik Buchara. Diese Ethnisierung und Nationalisierung stand in Einklang mit den Konstruktionsprinzipien der Sowjetunion. Entsprechend dem vorherrschenden Trend wurde der Großteil der unter dem Begriff Sarten gefassten sesshaften Bevölkerung nach 1924 zu Usbeken. Die Ansprüche der tadschikischen Nationalbewegung wurden erst nach 1924 formuliert. Ihre Träger waren in erster Linie jene Teile der politischen tadschikischen Elite, die aus Buchara, Chuğand oder Samarkand stammten und als Verlierer von Machtkämpfen in der Elite Usbekistans in die neue tadschikische Republik gelangt waren, mit deren Territorium sie sich wenig verbunden fühlten. Die Entfaltung der tadschikischen Nationalbewegung ist daher eng mit der sowjetischen tadschikischen politischen Entität verknüpft. Beispielhaft ist die Person Boboğon Ģ. Ģafurovs (1908–77), der sowohl erster Sekretär der Kommunistischen Partei Tadschikistans (1946–56) wie auch Autor des Standardwerks über die Geschichte der T. war.

Dementsprechend sind die T. Afghanistans außerhalb der sowjetisch-tadschikischen Nation geblieben. Es gibt zwar zahlreiche Beziehungen und Solidaritäten zwischen den T. Tadschikistans und denen Afghanistans, wie sich während der Bürgerkriege in beiden Ländern zeigte. Die tadschikische Nationalbewegung erhebt aber keinen Anspruch auf die T. Afghanistans. Der Begriff hat dort eine sozio-kulturelle Konnotation bewahrt. Erst in den letzten zwanzig Jahren hat er als Eigenbezeichnung Akzeptanz gefunden.

Problematisch war und ist bis heute auch die Integration der als T. geltenden Bevölkerung der Republik Tadschikistan zu einer nationalen Solidargemeinschaft. Die nationale Abgrenzung erhob den Anspruch, Ethnien Territorien exakt zuzuweisen. T. sollten demnach diejenigen sein, die in Tadschikistan lebten. Tatsächlich aber lebten nun in der Republik Tadschikistan verschiedenste Bevölkerungsgruppen zusammen, die wenig miteinander verband. Über 90 % des Territoriums der Republik sind Hochgebirge. Verkehrswege und Kommunikation zwischen verschiedenen Landesteilen sind bis heute die meiste Zeit des Jahres stark erschwert bzw. unmöglich. Die Hochtäler waren bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. de facto selbstständig. Ost-Buchara, d. i. der westliche und zentrale Teil Tadschikistans, hatte aus selbständigen Fürstentümern bestanden, die erst in der Protektoratszeit in den Machtbereich des bucharischen Emirs gelangt waren. Dieser geographischen Lage entsprach die Heterogenität der Bevölkerung, die die Republik Tadschikistan bei ihrer Gründung bewohnte. Die Volkszählungen der 1920er Jahre identifizierten zahlreiche verschiedene kleine Volksgruppen (z. B. Jagnoben) v. a. in den Hochtälern des Pamir, die anschließend offiziell in das tadschikische Ethnos eingegliedert wurden. Die Bewohner der tieferen Regionen und Täler verfügten über ein stark ausgeprägtes Regionalbewusstsein. Hinzu kamen zahlenmäßig schwer zu beziffernde Gruppen von Emigranten aus Buchara, Samarkand und anderen Städten Transoxaniens. Die Integration dieser verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu einer tadschikischen Staatsnation war von Beginn allein dadurch schwierig, dass die zur gemeinschaftlichen Identifikation angebotenen Symbole nur für einen Teil der Bevölkerung der neuen Republik von Bedeutung waren. Die tadschikische Literatursprache beruht auf den Dialekten von Buchara und Samarkand. Der Schriftsteller Sadriddin Aini, einer der herausragendsten Vertreter der tadschikischen Nationalbewegung, hat nie in der Republik gelebt. Von Anthropologen geschaffene Begriffe wie Bergt., zu denen u. a. die Pamirvölker der autonomen Provinz Gornyj Badachšan gezählt werden, stoßen bei den so Bezeichneten auf Ablehnung. Im Unterschied zu den merhheitlich sunnitischen Talt. sind sie Ismailiten. Ihre Sprachen gehören zur Gruppe der ostiranischen Sprachen, die sich vom kodifizierten Literaturtadschikischen wesentlich unterscheiden. Aber auch die eigentlichen Talt. sind nicht zu einer nationalen Solidargemeinschaft zusammengewachsen. Subethnische Identifikationen spielen eine große Rolle, v. a. Regionalgemeinschaften und Clans. Ausgeprägter Regionalismus ist bis heute politisch wirksam: so vermischte sich die ausnahmslos aus anderen Landesteilen zugezogene Bevölkerung in der Hauptstadt Duschanbe nicht, sondern lebte nach Regionalgemeinschaften getrennt. Umsiedlungsaktionen der Stalinzeit verschoben zwar Bevölkerungsteile, bewirkten aber nicht deren Vermischung, sondern erhöhten Konfliktpotentiale. In der Perestroikazeit dominierten zwar nationaltadschikische Forderungen nach Wiederbelebung der Kultur und gegen die Dominanz der russischen Sprache die Medien. Doch stürzte mit dem Ende der Sowjetunion Tadschikistan in einen blutigen Bürgerkrieg, in dem die regionalen Differenzen die bedeutendste Rolle spielten. Seit seinem Ende 1998 bemüht sich die tadschikische Regierung um nationale Konsolidierung. Im Zentrum steht der Gründer der Samanidendynastie Ismoil Somonij als nationale Integrationsfigur, die neue Landeswährung hat ebenso seinen Namen erhalten wie der ehemals höchste Berg der Sowjetunion (früher Pik Kommunizma). Es bleibt abzuwarten, ob diese Bemühungen zu größerer innertadschikischer Integration führen werden.

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(Gero Fedtke)

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