Migration

Inhaltsverzeichnis

1 Begriff

M. ist ein sozialwissenschaftlicher und politisch-historischer Begriff, der Prozesse räumlicher Bewegung von Menschen bezeichnet. Man unterscheidet dabei zwischen Binnenwanderung – der Wanderung innerhalb eines Gebietes – und Außenwanderung: über die Grenzen des Gebiets hinaus.

Wanderungsbewegungen sind Teil der Menschheitsgeschichte. Als Ursachen werden ›Push- and Pull‹- (Druck- und Sog-) Faktoren unterschieden. Während erstere Menschenrechtsverletzungen, Krieg und Bedrohungen umfassen, entsteht Sogwirkung durch eine höhere Attraktivität des Zielgebiets, vornehmlich in ökonomischer Hinsicht.

In den letzten Jahrzehnten spielen Wanderungen in die westlichen Demokratien und führenden Industrieländer eine zunehmende Rolle: So sind große Wanderungsbewegungen von den nord- und schwarzafrikanischen Ländern sowie den osteuropäischen und GUS-Staaten nach Europa, von Süd- und Südostasien in die Golfstaaten und nach Saudi-Arabien, von Mexiko und der Karibik sowie von Südostasien in die USA, von Indien und Indonesien nach Korea, Japan und Taiwan zu verzeichnen.

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2 Migration in und nach Europa im 20. Jh.

Europa war im 20. Jh. dramatischen demographischen Veränderungen unterworfen, die bis in die 50er und 60er Jahre vornehmlich politisch motiviert waren: Der erste Weltkrieg, neue Staatsgründungen auf dem Fundament des aufgelösten Habsburger Reiches sowie die Oktoberrevolution stehen am Anfang dieser Veränderungen. Die Totalitarismen in Deutschland und der UdSSR enthalten groß angelegte Deportationen ganzer Völker und sozialer Gruppen, Umsiedlungen und Genozid.

Der Zweite Weltkrieg führte zu einer unvergleichbaren Fluchtbewegung und demographischen Veränderungen insbesondere in Mittelosteuropa: Städte wie Königsberg oder Vitebsk verloren ihre ursprüngliche Bevölkerung nahezu vollständig,

Der Zweite Weltkrieg führte zu einer unvergleichbaren Fluchtbewegung und demographischen Veränderungen insbesondere in Mittelosteuropa: Städte wie Königsberg oder Vitebsk verloren ihre ursprüngliche Bevölkerung nahezu vollständig, Überlebende flohen nach Westen und neue Bevölkerungen aus dem Osten ersetzten sie ab den 50er Jahren. Die jahrhundertealte jüdische Präsenz in Mittelosteuropa wurde durch die Nazis ausgelöscht. Die Deutschbalten wurden aus den baltischen Staaten nach jahrhundertelanger Präsenz dort vom Dritten Reich in die Nähe von Danzig umgesiedelt. Zu Kriegsende setzte eine Massenflucht vor der Roten Armee nach Westen, Skandinavien und nach Amerika ein. Das Wirtschaftswunder und der Wiederaufbau in West und in Ost führten ab den 50er Jahren zu Arbeitskräftemangel und gezielten Anwerbemaßnahmen der betroffenen Staaten: Während die Bundesrepublik Deutschland die sog. Gastarbeiter in den Mittelmeerländern anwarb, reagierte die Sowjetunion mit der Ansiedlung von Arbeitskräften aus Russland insbesondere in den baltischen Staaten.

Europa, das bis zum Zweiten Weltkrieg weniger Einwanderungen, als vielmehr Auswanderungen insbesondere nach Nordamerika verzeichnete, erlebte somit ab den späten 50er Jahren eine Trendwende: An die Stelle der seit dem Ende des 19. Jh. und im Zuge der Industrialisierung saisonbedingten Wanderungsbewegungen- von Polen nach Deutschland, von Spanien, Italien und Griechenland nach Frankreich, traten nun zunächst angeworbene Gastarbeiter. Vollbeschäftigung und dann Arbeitslosigkeit führten ab den 70er Jahren zu einer zunehmend restriktiven Einwanderungspolitik europäischer Konzertierung, die 1995 im Schengener Abkommen gipfelte: Binnenwanderung im Inneren restriktive Politik nach außen.

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3 Schengener Abkommen

Das Schengener Abkommen wurde 1985 zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden geschlossen. Ziel war der zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht umgesetzte Verzicht auf Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Schengen I). 1990 wurden im sog. Schengener Durchführungsabkommen (Schengen II) nähere Regelungen vereinbart, die auch von Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Spanien und Schweden unterzeichnet wurden. 1995 trat das Abkommen in Kraft. Begleitend wurden Maßnahmen zur Gewährung der inneren Sicherheit und zur Verbrechensbekämpfung nach Wegfall der Grenzkontrollen sowie die Einrichtung eines gemeinsamen polizeilichen Fahndungs- und Informationssystems in Straßburg eingeführt. Durch den Vertrag von Amsterdam wurde der gesamte so genannte Schengen-Besitzstand in das Vertragswerk über die Europäische Union überführt, wobei Dänemark, Großbritannien und Irland Ausnahmeklauseln geltend machen. Die osteuropäischen Beitrittsländer konnten entsprechende Ausnahmen nicht beanspruchen, da sie nach der Integration des Schengen-Abkommens in den ›Acquis Communautaire‹ der EU beitreten. Neue Mitglieder sind jedoch nicht sofort vollkommen in das Schengen-System integriert, sondern müssen erst ihre Fähigkeit, die Außengrenzen angemessen zu kontrollieren, über mehrere Jahre unter Beweis stellen.

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4 Xenophobie und Migration in Europa

Der seit den 1960er Jahren ausgebaute westliche Wohlfahrtsstaaten zeitgleich mit der zwischen den 1950er und 1970er Jahren gewünschten Arbeitsimmigration führte und führt zu öffentlicher Furcht vor Missbrauch und einer zunehmend xenophoben Haltung weiter Teile der europäischen Bevölkerungen. Die terroristische Bedrohung, wie sie seit dem 11.09.2001 diagnostiziert wird, hat zudem mit einer von den Mehrheiten fast aller Bevölkerungen in den EU-Staaten vor der Erweiterung getragenen Gleichsetzung von Immigration und Sicherheitsrisiko geführt. So waren im Jahre 2002 46 % der bundesdeutschen Bevölkerung überzeugt, dass die Grenze der Aufnahmefähigkeit für Ausländer erreicht sei, 60 % der Spanier setzten zum gleichen Zeitpunkt Immigration und Kriminalität gleich, und 80 % der Bürger der EU waren vor der fünften Erweiterung sind der Auffassung, dass ihre Regierungen einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung der illegalen Einwanderung setzen müssen. Schengen ist in der öffentlichen Meinung der europäischen Bevölkerungen ein Synonym nicht für eine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik, sondern für eine Bedrohung Europas. Die Tatsache, dass Europa, ganz anders als die USA, keine Einwanderungstradition aufweist – von saisonaler M. einmal abgesehen – mag gleichzeitig zur Erklärung dafür dienen, dass sich viele Staaten an diese allgemeine Veränderung erst einmal gewöhnen müssen.

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5 Demographie und Migration in Osteuropa

Mittel- und Osteuropa sind im 20. Jh. das Opfer von Krieg, Genozid und Unterdrückung geworden, die gewaltige Flüchtlingsströme und demographische Veränderungen nach sich zogen. Drei Ursachen sind zu nennen: Deutschland, die UdSSR, sowie innere Ursachen. Erstaunlicherweise werden die Gemeinsamkeiten der Region bezogen auf dieses demographische Erdbeben selten erwähnt, sondern stattdessen von einzelnen Ländern gesprochen. Die Entwicklung im Baltikum ist dabei von der in Weißrussland nicht verschieden, sondern verzeichnet so wie diese die verschiedenen Schocks im Ergebnis von Weltkriegen und Diktatur.

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6 Migration und Demographie im Baltikum

6.1 Baltikum bis 1991

Für das Baltikum belegen die folgenden Zahlen die Tragödie des 20. Jh.:

– Die lettische Bevölkerung sank von 2,5 Mio. 1914 auf 1,6 Mio. 1920.
– Die estnische Bevölkerung sank von 1,14 Mio. (1939) auf 854.000 (1945).
– Die litauische Bevölkerung sank von 3,1 Mio. (1940) auf 2,5 Mio. (1955).

Abgesehen von diesen dramatischen Veränderungen, die ansonsten allein der Kaukasus im gleichen Ausmaß erlebt hat, ganze Bevölkerungen sind aus dem baltischen Raum ein für alle Male verschwunden, durch Genozid, freiwillige Umsiedlung, Deportation oder Flüchtlingsströme:

– Etwa 400.000 Juden haben im Genozid des Zweitren Weltkriegs im baltischen Raum den Tod gefunden.
– 40.000 Deutschbalten wurden zwischen 1939 und 1940 auf Anweisung des Führers umgesiedelt.
– Die Schweden in Estland, eine Gruppe von ca. 8000 Personen, hat das Baltikum in Übereinstimmung mit einem entsprechenden deutsch-schwedischen Vertrag verlassen.
– Die Polen aus Litauen, ca. 220.000 Personen, wurden fast vollständig im Zeitraum 1945–58 von Litauen nach Polen umgesiedelt bzw. deportiert.

Zusätzlich wurden die baltischen Völker seit 1940 Opfer von Deportationen nach Sibirien: Zehntausende, insbesondere die Eliten, mussten ihre Länder verlassen; viele kamen bei den Deportationen ums Leben.

– Nach dem 2. Weltkrieg führte die massive Einwanderung sowjetischer Arbeitskräfte zu einer erneuten dramatischen Veränderung: Während die Anzahl der Russen in den drei baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit ca. 8 % für Estland, 10 % für Lettland und 3–4% für Litauen betrugen, so belegen die heutigen Zahlen den Nachkriegswandel: 28 % für Estland, 32 % für Lettland und 8 % für Litauen. Dabei sind die eingewanderten sowjetischen Arbeits- oder Militärfamilien regional sehr ungleich verteilt und konzentrieren sich vor allem in den grossen Städten und Industriegebieten.
– Ostpreussen hat eine vollständige Substitution seiner vormals deutschen Bevölkerung durch die sowjetische erfahren, im Zeitraum 1944 und bis zum Beginn der 50er Jahre. Noch vor kurzem spiegelte die ethnische Situation in Kaliningrad die Sowjetunion im Kleinen wieder; in jüngster Zeit allerdings mehrt sich der Anteil jener Russen, die im Gebiet selbst geboren sind.
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6.2 Das baltische Exil bis 1991

Bedeutende Exilgruppen der drei baltischen Staaten entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg in Schweden, Deutschland, Kanada und den USA. Lettische, estnische und litauische Schulen entstanden ebenso wie Exilorganisationen, so der Weltbund Freier Letten, Baltische Informationsbüros etc. Ein Schloss an der Loire – Abrene – diente den Letten als Treffpunkt. In Annaberg bei Bonn diente und dient der Baltisch-Christliche Studentenbund als Anlaufstelle. Mit Schiffen, die die baltischen Häfen ansteuerten, wurden Bücher und Bibeln in das Baltikum geschmuggelt.

Gleichzeitig war der Kontakt zwischen den Exilanten und ihrer Heimat sehr beschränkt: Das hoch militarisierte Baltikum war kaum zugänglich, Kaliningrad für Ausländer überhaupt nicht und jeder Weg, jede Flug- und Eisenbahnverbindung führte über Moskau.

Erst mit Beginn der Perestrojka konnten die Exilanten, die sich niemals vollständig mit den Gastländern assimiliert hatten, den Kontakt zum Baltikum wieder aufnehmen und unterstützten massiv die Unabhängigkeitsbewegung und sodann die Staatsbildungen. Nicht zufällig bekleideten Exilanten hohe politische Ämter in den wiedererrichteten Staaten, so jene der Staatspräsidenten (Valdas Adamkus, [[Vīķe-Freiberga, Vaira|Vaira Vīķe-Freiberga) oder der Minister und Botschafter wie Egils Levits.

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7 Wanderungsbewegungen seit 1991

Die Öffnung der Berliner Mauer im Jahr 1990 führte zu gigantischen Fehleinschätzungen über die Zahl der Ost-West-Migranten: Eine erste Schätzung der Vereinten Nationen (UNHCR) im Jahr 1989 von 25 Mio. wurde rasch auf 220.000 Personen im Jahr und insgesamt 3,7 Mio. Ost-West-Migranten über einen Zeitraum von fünf Jahren nach unten korrigiert. Wie das Beispiel Griechenlands, Spaniens und Portugals zeigt, lässt wirtschaftsbedingte M. zudem mit steigendem Lebensstandard im Herkunftsland nach. Die Integration in die EU hat in jedem Fall eine Harmonisierung mit dem EU-Mittel bezüglich des Lebensstandards über mehrere Jahrzehnte zur Folge. Gegenwärtig beträgt das Durchschnittseinkommen der neuen osteuropäischen Beitrittskandidaten ca. 43 % des EU-Mittels vor Erweiterung am 1. Mai 2004.

Haupteinwanderungsländer der osteuropäischen M. sind bisher Deutschland und Österreich. Diese Länder haben von den vorgesehenen Restriktionsmöglichkeiten Gebrauch gemacht und Arbeitsm. für einen Zeitraum von maximal sieben Jahren beschränkt.

Ein psychologisches Problem insbesondere für die osteuropäischen Länder außerhalb der erweiterten EU ist die Errichtung der Schengen-Grenze im Osten Europas: Reisefreiheit war und ist Synonym für Freiheit und Demokratie und galt als eine der Hauptforderungen der demokratischen Bewegungen. Erneute Restriktionen lassen unangenehme Erinnerungen an eine autoritäre Vergangenheit aufkommen und führen zur Entfremdung zwischen West- und Mitteleuropa einerseits sowie Osteuropa andererseits.

Bis 2002 galten in Osteuropa liberale Bedingungen zwischen den meisten postsowjetischen Staaten: Estland und Lettland ausgenommen konnten sich die Staatsbürger der früheren Sowjetunion recht problemlos zwischen den Staaten bewegen. Dieser Freiheit ist durch die EU-Integration ein Ende gesetzt.

Doch ist die liberale, um nicht zu sagen gleichgültige Handhabung der Grenzräume zwar wirtschaftlich in vielerlei Hinsicht funktional gewesen, hat den Grenzhandel belebt, regionale Kooperation ermöglicht, zog aber auch insbesondere zu Anfang der 90er Jahren massive Transitwanderungen aus Asien in die Grenzstaaten mit Westeuropa nach sich. Viele der Migranten aus dieser Zeit befinden sich heute noch in Weißrussland, Russland und der Ukraine und warten auf eine Möglichkeit, ihren Weg fortzusetzen. Genaue Schätzungen ihrer Zahl sind extrem schwierig. Nach Schätzungen der Internationalen M.s-Behörde (IOM) warteten im Jahr 1997 200.000 illegale Transitmigranten in Weißrussland und 500.000 in Russland auf eine Möglichkeit, ihren Weg nach Westen fortzusetzen.

Es ist damit auch zu vermuten, dass Russland nach der Türkei und Marokko eines der wichtigsten Transitm.sländer nach Westen werden wird.

Ein weiteres M.sphänomen in Osteuropa ist die Tatsache, das die mittelosteuropäischen Staaten selbst Einwanderungsstaaten wurden: So arbeiten heute in Polen fast ebenso viele Ukrainer im Bereich des Bausektors wie Polen im entsprechenden Sektor in Deutschland. Wettbewerbsfähige Löhne erklären dieses Phänomen, doch muss in Mittelosteuropa mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit gerechnet werden, ganz ähnlich wie in Westeuropa.

Die Länder Mittelosteuropas sind damit gegenwärtig Immigrations- und Emigrationsländer zugleich, was ihre besondere ökonomische und politische Lage zu Beginn des 21. Jh. darstellt und was genau der Situation Griechenlands, Spaniens und Portugals in den 80er Jahren entspricht.

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8 Kriminalität: Die baltische Route

Verschiedene kriminelle Routen sind mit dem Zerfall des Sowjetblocks entstanden, so die baltische Route: Diese Route dient dem Menschen- und Warenschmuggel. Die Gefahr besteht dabei weniger in der illegalen Einwanderung baltischer Staatsbürger, als vielmehr der Transm. aus den GUS-Staaten, Asien und Afrika. Durch seine geographische Lage ist insbesondere Litauen als Schwachstelle in der Region anzusehen.

Lettland und Estland haben die Grenzen von Anfang an strikter gehandhabt als Litauen und sehen sich einem anderen Problem gegenüber: Nach wie vor ist eine grosse Zahl der russischsprachigen Einwohner nicht Staatsbürger, sodass diese Personengruppe sich mangels anderer Möglichkeit kriminellen Machenschaften zuwenden könnte.

Drittens sind die drei baltischen Staaten Transitländer für Drogenhandel von Zentralasien und Südostasien nach Westeuropa und die USA. Die Produktion synthetischer Drogen wie Ecstasy und Amphetamine steht dabei an der Spitze der Export-Produkte.

Bpb (http://www.Bpb.de/Publikationen/0y0h6n.html) (Stand 15.4.2004). iom (http://www.iom.org) (Stand 03.07.2007). Proceedings of the Regional Co-ordination Seminar for Baltic Migration Officials, 20.10.1999, Tallinn. Trafficking in Migrants. The Baltic Route. IOM News Release 783, Geneva 24.1.1997. Willimas N. .......

(Susanne Nies)

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